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Joel 2 - Die Schatten wachsen in der Daemmerung

Joel 2 - Die Schatten wachsen in der Daemmerung

Titel: Joel 2 - Die Schatten wachsen in der Daemmerung
Autoren: Henning Mankell
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haben.
    Aber das beste vom ganzen Tag war doch gewesen, daß Frau Nederström auf Otto böse geworden war, weil er nicht aufgepaßt hatte. Joel mochte Otto nicht. Er war sein Todfeind. Er stand ganz zuoberst auf Joels Liste mit den Menschen, denen er Schlechtes wünschte. Otto war Sitzenbleiber und ärgerte die anderen, sooft er konnte. Außerdem war er so stark, daß Joel ihn bei den Schneeballschlachten im Winter nie besiegen konnte.
    In der Geographiestunde war Joel plötzlich eine Idee gekommen.
    Er wollte ein Geographiespiel erfinden. Wie es richtig gehen sollte, wußte er noch nicht. Er wußte nur, daß es ein Würfelspiel sein und darauf ankommen sollte, wer am schnellsten um die Erde reiste. Jetzt wollte er schnell nach Hause, damit er anfangen konnte, das Spiel zu entwerfen. Er hatte alte Karten gesammelt. Die wollte er zerschneiden und darauf zeichnen.
    Fast vergaß er, daß er Kartoffeln und Milch kaufen sollte. Aber er hatte wieder Glück. In Ljunggrens Feinkostladen war es leer, und er wurde bedient, ohne daß er warten mußte. Dann vergaß er, daß er versprochen hatte, in die Bierstube zu gehen und sich bei Sara zu bedanken. Er war schon fast zu Hause, als es ihm wieder einfiel. Zuerst wollte er drauf pfeifen. Er konnte sich auch noch morgen bei ihr bedanken. Aber dann überlegte er es sich anders. Immerhin hatte sie ihm zwei Schachteln mit Hustenbonbons geschenkt. Er drehte um und lief denselben Weg zurück, den er gekommen war.
    Das war der Augenblick, in dem das Wunder geschah. Joel erlebte ein Mirakel.
    Er paßte nicht auf, als er über die Straße lief. Vor dem Eisenwarenladen stand ein Zementmischer und dröhnte. Irgendwo in der Nähe der Buchhandlung hupte ein Laster.
    Plötzlich war der große Bus vor ihm. Vielleicht hat er die verzweifelten Bremsversuche des Fahrers gehört? Vielleicht hat er nichts gehört ? Aber kurz bevor er unter den großen Rädern zermalmt wurde, stolperte er und fiel rücklings hin. Der Bus rollte geradewegs über ihn hinweg, fuhr gegen einen Laternenpfahl vor der Bierstube und stand.
    Joel lag ganz still. Er roch Öl und die Wärme vom Auspuff, der sich nur wenige Zentimeter über seinem Gesicht wie eine schmutzige Stahlschlange ringelte.
    Alles war so schnell gegangen, daß er nicht einmal Angst bekommen hatte. Als er unter dem Bus lag, wußte er nicht, was passiert war. Warum lag er da? Und was war das da über seinem Gesicht?
    Er drehte den Kopf und sah Füße hin- und herlaufen. Ein Tropfen Öl traf ihn knapp unter dem einen Auge. Von irgendwoher hörte er rufende und schreiende Stimmen. Er hörte, wie jemand rief, ein Kind sei vom Bus überfahren worden. War er das Kind? Wenn er es war, dann war er also tot?
    Aber er war doch gar nicht tot? Alles war wie immer, abgesehen davon, daß er auf dem Rücken auf der nassen Straße lag und Öl in sein Gesicht tropfte.
    Es mußte doch einen Unterschied geben, wenn man tot oder lebendig war?
    Dann spürte er eine Hand, die ihn packte. Ein Gesicht näherte sich. Er kannte das Gesicht. Es gehörte Nyberg. Nyberg, der Rausschmeißer der Bierstube. Nyberg robbte sich heran.
    »Lebst du noch, Junge?« fragte das Gesicht. »Du lieber Gott, du lebst, Junge!«
    »Ja«, sagte Joel, »ich glaub schon.«
    Und in dem Augenblick bekam er Angst, und langsam begriff er, daß er ein Mirakel erlebt hatte.
    Ein Bus hatte ihn überfahren. Aber er war genau im richtigen Moment gestolpert und hingefallen, so daß er zwischen die Räder geraten war. Außerdem war der Ranzen mit den Schulbüchern, der Milch und den Kartoffeln zur Seite gerutscht. Wenn der auf seinem Rücken geblieben wäre, wäre er mit dem Gesicht gegen das Chassis des Busses geschlagen.
    Der Bus nach Ljusdal, dachte er. Der muß es sein. Der Bus nach Ljusdal hatte ihm sein Mirakel geschenkt. Er schloß die Augen. Hände begannen, ihn hervorzuziehen, vorsichtig, so, als ob er vielleicht doch tot wäre. Stimmen flüsterten und riefen rund um ihn herum. Er spürte, wie er über den nassen Asphalt gezogen wurde. Dann hob ihn jemand auf ein Bett, das auf und ab wippte. Türen aus Blech schlugen zu, und ein Motor begann zu brummen. Jemand saß neben ihm und hielt seine Hand.
    Er guckte vorsichtig, ohne die Augen ganz zu öffnen. Das hatte er vor Samuels Rasierspiegel geübt. Zu sehen, ohne daß jemand merkte, daß er guckte.
    Seine Hand hielt Eulalia Mörker. Ihr gehörte der Frisiersalon neben dem Eisenwarenladen. Eulalia, die einen ausländischen Akzent hatte und Kinder verjagte,
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