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Jesus von Nazaret

Jesus von Nazaret

Titel: Jesus von Nazaret
Autoren: Alois Prinz
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jedes Jahr zur Messe in die Domkirche und beten für unsere Mutter. Damit Mutter sich freut, droben im Himmelsgarten.
    Ina kann richtig zählen und rechnen. Meine Schwester hat sogar die Kalenderzahlen im Kopf. Ich verstehe von Zahlen nicht viel und große Zahlen machen mir Angst.
    Ina hatte mir am Neujahrstag gesagt, dass es jetzt tausend Jahre her ist, seit Maria das Jesuskind geboren hat. »Und noch zweihundert Jahre dazu«, erklärte sie mir. »Und dann sind es noch einmal vierunddreißig Jahre von damals bis zum Neujahrstag heute!« Ich kann mir so lange Zahlen nicht vorstellen, Ina aber hat sie in ihrem Kopf.
    Wenn ich darüber nachdenke, wird mir geradezu schwindelig. Dass man so lange zurückzählen muss, bis man an das Jahr kommt, in dem Maria das Christkind geboren hat. Die Gottesmutter ist doch bei uns, jeden Tag, immerzu, gestern und heute. Muss sie dabei zählen und rechnen, wie Ina es tut?
    Â»Es ist die fressende Krankheit*«, sagten damals unsere Hausleute in Taytingen bekümmert und hoben hilflos die Schultern. Man zerstückelte ein Hündchen und legte Mutter das noch warme Fleisch als Heilmittelunter ihren bloßen Kopf. Hatte ich an jenem Tag mit an ihrem Bett gestanden oder weiß ich das alles bloß vom Erzählen? Jedenfalls kann ich bis heute nicht mit ansehen, wenn ein Tier zu Tode gebracht wird. Und das Fleisch unter ihrem Kopf konnte auch Mutters fressende Krankheit nicht stillen.
    Vater war mit Kaiser Friedrich* übers Meer ins Heilige Land gefahren und Mutter weinte; dicke, verschwollene Augen hatte sie vor lauter Tränenjammer. Sie weinte schon, als sie Vater aus rotem Stoff das Kreuz auf den Waffenrock nähte. Die Glocken von Donauwörth läuteten, Priester versprengten Weihwasser und schwenkten Weihrauchgefäße, Mönche und Nonnen psalmodierten, während die Ritter der Grafschaft mit ihrem Gefolge die Schiffe bestiegen, auf denen sie die Donau abwärts zum Sammellager der Kreuzfahrer* gelangten. Von dort aus zogen sie los, um Christus gegen die Ungläubigen in Waffen zu dienen. Die Männer in den Schiffen reckten Schwerter und Lanzen in die Höhe und riefen wie aus einem Mund: »Deus vult! Gott will es!«
    Wir an der Ufermauer weinten. Nur Ina nicht. Auf dem Weg von Taytingen nach Donauwörth hatte Vater sie mit aufs Pferd genommen: »Kindel, ich bringe euch in den schönen Himmel, die liebe Mutter und auch euch, ihr lieben Zwillinge beide!« Ich sehe Ina noch vor mir an der Ufermauer. Mutter hatte die Hände vors Gesicht geschlagen, Ina winkte mit ihrem Kopftuch, bis die Schiffe der Kreuzfahrer hinter einer Flussbiegungverschwanden. Wir Zwillinge haben unseren Vater nicht wiedergesehen. Und bald nach seiner Todesnachricht kam Mutters Krankheit ins Haus, ihre fressende Krankheit, die auch das zerstückelte Hündlein nicht heilen konnte.
    Als müsste ich die Mutter zum zweiten Mal verlieren – so ist mir jetzt. Tränen laufen mir übers Gesicht, bis wir mit unseren schwappenden Wasserkübeln zurück im Kräuterhaus sind. Märthe und Elspet haben inzwischen Effelin entkleidet und ihr Bett mit frischem Leinen bezogen. Gemeinsam waschen sie die Schwester und schlagen ihren Körper in ein Laken.
    Effelin hat die Augen noch immer starr nach oben gerichtet, sie liegt aber nicht mehr so leblos da. Der Atem pfeift in ihrer Brust.
    Â»Ich laufe in die Stadt«, sagt Märthe. »Wir brauchen den Arzt! Du, Ina, begleitest mich. Und du, Elspet, du bleibst mit Kathie bei ihr. Setzt euch ans Bett, betet ein Vaterunser, ein Ave-Maria*. Laut, dass Effelin es hört und mitbeten kann, solange die Seele noch bei ihr ist!«
    Elspets Stimme ist kräftig. Ich begleite sie flüsternd. Außer dem Vaterunser spricht Elspet noch Worte aus den Psalmen. Ich kann die lateinischen Worte nicht mitsprechen, anders als Ina habe ich das bis heute noch nicht gelernt.
    Ich schließe die Augen, während ich Elspets Stimme in stummer Andacht begleite. Bilder tauchen vor mir auf. An Effelins Seite sehe ich mich hacken und pflanzen. Wie kleine und so ungeschickte Hände hatte ichdamals, als Märthe mich zu ihr ins Gartenland schickte! Doch Effelin hatte Geduld mit mir. Sie lehrte mich, wie Kräuter, Salate und Wurzeln, die das Haus braucht, richtig und ordentlich gesät und gepflanzt werden. Wie die Beete zu häufeln sind. Nicht zu breit, damit die Arme darüberreichen können. Und dass
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