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Jenseits von Feuerland: Roman

Jenseits von Feuerland: Roman

Titel: Jenseits von Feuerland: Roman
Autoren: Carla Federico
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unten. In der Finsternis sah sie nicht recht, worauf sie stieg, und als sie auf den Boden sprang, ertönte ein Knacken. Etwas Hartes rammte sich in ihre Fußsohle, sie stolperte, fiel, krachte gegen den Baum. Die harte Rinde zerkratzte ihr Gesicht, sie schmeckte salziges Blut.
    »Habt ihr das auch gehört?«, vernahm sie nicht weit von sich die Stimme eines Soldaten.
    Im fahlen Schein des Lagerfeuers erhoben sich einige Köpfe.
    Sie wusste, dass sie geduckt bei den Bäumen stehen bleiben sollte, den Atem anhalten, keinen Mucks machen – und darauf hoffen, dass die Männer das Knacken auf ein wildes Tier schoben. Doch sie konnte nicht reglos stehen, konnte nicht geduldig warten. Sie musste rennen, rennen, rennen. Immer weiter. Immer schneller.
    Sie hörte nicht, ob die Soldaten ihr nachkamen, sie hörte nur die Stimme ihres Vaters.
    Du weißt, wohin du gehen musst.
    Ja, sie wusste es. Sie wusste nicht, wie sie hieß, wie sie mit all dem fertig werden sollte, aber sie wusste, dass sie überleben wollte – und welchen Zufluchtsort er gemeint hatte: die Siedlung am Llanquihue-See. Die Siedlung der Deutschen, die seine Freunde gewesen waren.
    Sie rannte und rannte. Nun hörte sie doch etwas – Pferdegetrampel nämlich, Rufe der Soldaten, Schüsse, die durch die Nacht hallten.
    Sie trafen sie nicht. Die Pferde waren zwar schneller als sie, aber das Land ihr ungleich vertrauter. Immer wieder versteckte sie sich hinter Bäumen oder im Gebüsch, watete durch Flüsse oder schlug Haken durch tiefes Dickicht. Sie schüttelte ihre Verfolger nicht ab und glaubte schon, an den Schmerzen in all ihren Gliedern umzukommen. Aber irgendwie ging es immer weiter, und als nach einer langen, erschöpfenden Nacht der Morgen graute, war sie nach wie vor am Leben.

2. Kapitel
    E milia Suckow streckte ihr Gesicht in die Sonne und ließ sich von ihren Strahlen necken. Es war der erste warme Frühlingstag in diesem Jahr, und auch wenn die Winter am Llanquihue-See nie wirklich beißend kalt waren, war es nach dem vielen Regen, unter dessen grauem Schleier das Land seine Farben verloren hatte, eine Wohltat, dieses kraftvolle Erwachen der Natur zu erleben. Strahlend blau war der Himmel, und die Vulkane auf der anderen Seite des Sees glitzerten in ihrem weißen Gewand. Emilia sah sich um, aber da niemand sie beobachtete, zögerte sie das Ende ihrer Pause noch ein wenig hinaus. Die Arbeit ging hier ohnehin nie aus, warum sie nicht einmal warten lassen und den Frühling genießen?
    In jedem Winter ihres Lebens hatte sie sich nach Sonne und Wärme gesehnt – doch in diesem Jahr hatte sie noch ungeduldiger als sonst auf den Frühling gewartet. Denn in diesem Frühling würde sie heiraten.
    Sie lächelte, wenn sie an das große Fest dachte, und es wurde ihr gleich noch wärmer, diesmal nicht wegen der Sonne, sondern vor Glück.
    Seit sie denken konnte, hatte sie zwei große Wünsche gehegt: Sie wollte ihren Freund aus Kindertagen, Manuel Steiner, heiraten. Und sie wollte einmal in ihrem Leben nach Deutschland reisen.
    Deutschland, das war die Heimat ihrer Eltern, die diese vor einigen Jahrzehnten verlassen hatten. Der Traum vom eigenen Land hatte sie nach Chile gelockt und sie die gefährliche Reise über zwei Ozeane ebenso überstehen lassen wie die harten Anfangsjahre, da sie den Urwald eigenhändig hatten abholzen müssen, um später Felder zu beackern und Rinder zu züchten. Bis vor wenigen Monaten war Emilia das Leben am großen Llanquihue-See, wo eine Siedlung von europäischen Einwanderern an die nächste schloss, als ziemlich eintönig erschienen. Sie hatte sich ihre Zukunft in der einstigen Heimat der Eltern ausgemalt, wo es große Städte gab – Städte mit Kopfsteinpflaster anstelle nackter Erde, mit Frauen, die ihre Haare zu Löckchen drehten, anstatt zu strammen Zöpfen zu binden, und mit Männern in Fracks statt zerrissener Bauernkleidung. Städte also, in denen alles nobler und reicher war und nicht nach Kuhmist stank wie das Leben hier. Doch nachdem sie mit Manuel versucht hatte, dorthin aufzubrechen, sie schon in Valparaíso kläglich gescheitert waren und sie beinahe im Bordell gelandet war, hatte sie eines gelernt: dass manche Länder nur so lange bunt, schillernd und verheißungsvoll waren, wenn man sie sich in Gedanken ausmalte, nicht aber, wenn man sie bereiste. Das hieß: Vielleicht war Deutschland tatsächlich bunt, schillernd und verheißungsvoll, die Fahrt dorthin aber viel zu mühselig und gefährlich, als dass sie sie
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