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Jenseits von Feuerland: Roman

Jenseits von Feuerland: Roman

Titel: Jenseits von Feuerland: Roman
Autoren: Carla Federico
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aufsagten, das Plaudern der Frauen, die in den kleinen Gärten etwas pflanzten oder ernteten oder Unkraut rupften, das Murmeln der älteren Männer, die über frühere Zeiten sprachen und Chica oder Muday tranken. Jeder tat, was ihm zu tun bestimmt war – ohne unnötige Hast und Übertreibung, ohne Ahnung auch, dass Gefahr in der Luft lag.
    Gewiss, in den letzten Wochen hatten sich Geschichten herumgesprochen, die von niedergemetzelten Männern, ermordeten Kleinkindern, vergewaltigten Frauen kündeten, aber sie hatten nur davon gehört, es nicht gesehen und deswegen nicht recht glauben wollen – desgleichen nicht, dass die wenigen, die überlebten, später an Hunger starben, weil ihre Ernte vernichtet war. Und selbst wenn es wahr war – es trug sich in einer anderen Welt zu, die nichts mit ihnen zu tun hatte. Die junge Frau erinnerte sich daran, laut gelacht zu haben, als Pater Franz einen chilenischen General – Saarvedra war sein Name – als Teufel beschimpfte.
    Der Teufel machte ihr keine Angst. Pater Franz behauptete, er trüge einen Ziegenschwanz und stinke nach Schwefel, doch sie wusste nicht, wie Schwefel roch. Das wusste sie auch heute noch nicht, obwohl sie in die Fratze von nicht nur einem, sondern so vieler Teufel geblickt hatte – aber sie wusste nun, wie das Pulver von Gewehren, wie Blut und Gewalt und Tod rochen.
    Die Soldaten hatten die Männer erschossen, die Rucas angezündet, die Tiere erstochen, die Frauen geschändet. Eine der Frauen hatte sich gewehrt und hatte es irgendwie geschafft, ein Messer an sich zu bringen, doch anstatt damit auf einen der Soldaten loszugehen, hatte sie sich darauf fallen lassen und war wortlos und mit weit aufgerissenen Augen verblutet. Ähnlich starr und gebrochen war der Blick ihrer Großmutter auf sie gerichtet gewesen. Die junge Frau wusste nicht, würde es vielleicht nie wissen, woran diese gestorben war: ob am Schrecken, ob von Schüssen getroffen oder einem Säbel niedergestreckt oder ob durch eigene Hand. Sie wusste nur, dass die Großmutter nach dem Vater der wichtigste Mensch in ihrem Leben gewesen war. Sie hatte sie nach dem frühen Tod der Mutter großgezogen und ihr beigebracht, Stoffe zu fertigen.
    Doch anstatt um sie trauern zu können, hatte sie zusehen müssen, wie auch der Kazike starb – der Stammesführer, dem stets so viel an prächtiger Kleidung gelegen war. Groß war er, korpulent und mächtig stolz auf sein weißes Hemd, sein buntes Stirnband, das – so spottete Pater Franz häufig – dem eines Schotten glich, und den Lederstiefeln, die aus noch warmer Haut gemacht worden war. Nach dem Angriff der Soldaten war das Hemd des Kaziken nicht länger weiß gewesen und die Schuhe nicht länger hellbraun, sondern beides rot, blutrot.
    Blut quoll auch aus der Brust des Vaters – des freundlichen, stillen Vaters, der oft unterwegs war, um Handel zu treiben, und der so viele Sprachen kannte, auch die der Soldaten. Er hatte noch versucht, auf sie einzureden, war jedoch erbarmungslos von Schüssen durchsiebt worden.
    »Vater!«, hatte sie geschrien. »Vater!« Sie war zu ihm gerobbt, zutiefst verwundert, dass sie überhaupt noch lebte.
    Er rührte sich nicht, doch sein Blick war noch nicht so leer und starr wie der der Toten. Sie hörte, dass er etwas zu ihr sagte – und auch jetzt hallten diese Worte in ihren Ohren wider.
    »Du musst weiterleben! Flieh! Du weißt, wohin du gehen musst.«
    Der Boden hatte unter den Hufen vibriert. Sie hatte ihren Kopf auf die blutige Brust des Vaters gelegt und sich tot gestellt. Ein Soldat war an ihr vorbeigeritten, ohne sie zu beachten, und als sie den Kopf vorsichtig wieder angehoben hatte, hatte ihr Vater nicht mehr geatmet. Das Geschrei war langsam verebbt, die Kampfgeräusche erstorben, und sie war Richtung Wald gekrochen. Im Schatten der Bäume war sie aufgestanden und hatte zu laufen begonnen.
    Du musst weiterleben! Flieh! Du weißt, wohin du gehen musst!
    Immer schneller war sie gerannt, immer weiter von der Mission fort, durch Wälder, wo Araukarien und Winterrinden dicht nebeneinander standen – eigentlich die heiligen Bäume der Mapuche. Für sie waren sie nicht mehr heilig. Nichts konnte heilig sein für jemanden, der seinen Namen nicht mehr wusste, der alles verloren hatte.
    In ihrem Herzen war es so schwarz wie nun der Himmel. Ja, es war Nacht geworden, fast alle Soldaten schnarchten schon. Sie ließ den Ast los, klammerte sich stattdessen an den Baumstamm und kletterte langsam nach
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