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Jenseits von Feuerland: Roman

Jenseits von Feuerland: Roman

Titel: Jenseits von Feuerland: Roman
Autoren: Carla Federico
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Lippen seinen Namen, und sie sprach eines seiner Gebete, die er sie gelehrt hatte.
    Er hatte gewusst, dass Gefahr drohte, hatte mehrfach sorgenvoll erwähnt, dass die chilenische Regierung darauf aus war, Araukanien zu unterwerfen – das Gebiet der Mapuche, der Ureinwohner Chiles. Doch es war für ihn undenkbar gewesen, sich selbst in Sicherheit zu bringen und seine Mission im Stich zu lassen.
    »Wie kann man sich nur einbilden, man könne die Wilden bekehren?«, spottete nun einer der Soldaten. »Man kann auch Tiere nicht taufen, warum also Rothäute?«
    »Unmöglich, sie zu zivilisieren«, pflichtete ihm ein zweiter bei. »Bockig sind sie … ungebildet …«
    Die Frau biss sich noch fester auf die Lippen. Sie sollte bockig sein, ungebildet?
    Aber sie konnte doch schreiben und lesen! Und sie konnte Farben herstellen und Stoffe weben – noch nicht so gut wie ihre Großmutter, aber doch schon sehr geschickt.
    »Ich habe mal von einem Pfaffen gehört«, grölte der Soldat weiter, »der tatsächlich glaubte, man müsse einem Wilden nur eine lateinische Bibel in die Hand drücken – und prompt sei der bekehrt.«
    Die letzten Worte gingen in Gelächter unter.
    Die junge Frau schüttelte den Kopf. Pater Franz hätte nie auf so plumpe Maßnahmen zurückgegriffen. Er hatte sich nicht aufgedrängt, aber er hatte seinen Mapuche-Freunden immer wieder vom wahren Gott und seinem Sohn Jesus Christus erzählt. Noch vor ihrer Geburt hatte sich der ganze Stamm taufen lassen – zwei Männer ausgenommen, die sich dagegen wehrten, von der Vielweiberei abzulassen. Später übernahmen deren Söhne – stolz und wortkarg beide – die Sitte ihrer Väter, wenngleich sie zumindest in einem auf den Rat von Pater Franz hörten: Anders als üblich übernahmen sie nicht die Frauen ihrer Väter, sondern suchten sich neue. Diese Männer gingen sonntags nie zur Kirche, die Pater Franz eigenhändig gebaut hatte, und beteten nicht vor dem Essen, wie Pater Franz es sie gelehrt hatte. Für sie selbst, ihre Großmutter und ihren Vater Quidel hingegen war es so selbstverständlich gewesen.
    Nein, sie waren keine unzivilisierten, dummen, bockigen Wilden! Sie waren Christen – und rechtschaffene Händler!
    Aber die Soldaten sahen das offenbar anders.
    »Sie sind doch selbst schuld, dass es ihnen jetzt an den Kragen geht!«, rief einer. »Über Jahre haben ihre Häuptlinge alle Gesetzesbrecher Chiles aufgenommen und bei sich leben lassen. Sie haben doch nicht ernsthaft gedacht, sie könnten damit durchkommen.«
    »Seit wann können Rothäute denken?«, gab ein anderer grinsend zurück.
    Und wieder ein anderer meinte: »Seid froh, dass wir einen Grund hatten, die Grenzposten zu überschreiten. Eins sage ich euch – heute und hier: Mit den Rothäuten ist’s nun endgültig vorbei. Vielleicht können sich ein paar verkriechen, aber ein eigenes Land werden sie nie wieder haben.«
    Und abermals folgte Gelächter, das der jungen Frau schier die Ohren zerriss. Schläge ins Gesicht hätten nicht schmerzhafter sein können als dieser Laut.
    Irgendwann ebbte er ab, die Stimmen wurden leiser. Bis eben hatte sie völlig starr gehockt, nun lockerte sie den Griff etwas. Ihre Hände fühlten sich taub an, die Lippen, auf die sie sich gebissen hatte, ebenso. Auch die Furcht, von den Soldaten entdeckt zu werden, fiel von ihr ab: Die Dunkelheit senkte sich schnell wie immer über das Land, und die Schatten der Berge fielen als Erstes auf den Baum, auf dem sie hockte. Niemand würde sie noch hier oben entdecken können. Ob es jedoch auch sicher genug war, nach unten zu klettern und weiterzulaufen – dessen war sie sich nicht so sicher. Sie entschied zu warten, bis der Himmel kohlschwarz war.
    Die Stimmen waren nun endgültig verstummt. Einige der Soldaten brieten immer noch Fleisch über dem Feuer, andere wärmten ihre Hände über den Flammen, manche hatten sich auf den bloßen Boden gelegt und schnarchten.
    Bis zu diesem Moment hatte sich die junge Frau nach nichts anderem gesehnt, als dass sie nicht mehr lachten und spotteten – doch die Stille, die folgte, war noch qualvoller.
    Mit der Stille kamen die Erinnerungen. Daran, wie sie heute Morgen neben ihrer Großmutter in der Ruca gesessen war. Daran, wie diese Körner gestampft hatte, um später daraus Farben anzurühren. Auch an die üblichen Geräusche der Mission erinnerte sie sich: das Gackern der Hühner, die Stimmen der Kinder, die von Pater Franz unterrichtet wurden und gerade das Alphabet
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