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Jenseits von Feuerland: Roman

Jenseits von Feuerland: Roman

Titel: Jenseits von Feuerland: Roman
Autoren: Carla Federico
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Säbel aufspießen, wenn sie ein wenig Glück hatte, oder ihr Kleid zerfetzen, ihr ins Gesicht schlagen und sie schänden, wenn sie gar kein Glück hatte.
    Das Geäst knirschte, sie war sich nicht sicher, ob es nicht zu morsch war, um ihrem Gewicht standzuhalten. Aber jetzt gab es kein Zurück mehr. Die Soldaten kamen um die Ecke, deuteten auf das Wasser, ritten darauf zu. Ein Kondor zog am blauen Himmel seine Kreise, warf seinen Schatten auf sie.
    Die Soldaten sprangen von den Pferden, stürzten auf das Wasser zu, johlten lustvoll, als es ihre trockenen Kehlen nässte. Wahrscheinlich wuschen sie sich ihre blutigen Hände darin. Es musste viel Blut sein. Sie hatten so viele getötet.
    Die Soldaten waren am helllichten Tag in der Mission eingefallen, als die junge Frau und ihre Familie gerade beim Essen zusammengesessen waren. Ihre Mahlzeit war wie immer einfach, aber reichlich ausgefallen: Es hatte gekochte Bohnen und Kichererbsen gegeben, flache, noch heiße und krosse Fladen sowie Nüsse der Pinienbäume, die die Größe von Datteln hatten.
    Sie leckte sich über die trockenen Lippen und schluchzte auf, als sie daran dachte, dass es für alle, mit denen sie gegessen hatte, die letzte Mahlzeit gewesen war.
    Ihre Großmutter war tot.
    Ihr Vater auch.
    Die Soldaten, die wie aus dem Nichts gekommen waren, hatten die ganze Mission ausgerottet. Sie hatte als Einzige überlebt.
    Die Soldaten stapften knietief ins Wasser, spritzten sich lachend nass.
    Sie hielt den Atem an, während sie sie beobachtete, und umkrampfte den Ast so fest, dass sich die Rinde in ihre Handinnenfläche bohrte. Doch der Schmerz war so nichtig – gemessen an ihrer Todesangst. Ja, sie hatte Todesangst. Sie wusste nicht mehr, wie sie hieß, sie wusste nicht, wie sie ohne ihre Familie in einer grausamen Welt bestehen sollte, in der Soldaten wahllos mordeten. Aber sie wusste, dass sie leben wollte.

    Irgendwann hatten die Soldaten ihren größten Durst gelöscht und sich ausreichend gewaschen, doch sie machten nach wie vor keine Anstalten, wieder auf ihre Pferde zu steigen und weiterzureiten. Einer der Männer schichtete Steine und Holz aufeinander, um ein Lagerfeuer zu entzünden, ein anderer spießte etwas auf seinen Säbel auf und hielt es über die Flammen. Aus der Ferne sah es aus wie Trockenfleisch.
    Die junge Frau würgte. So viele Menschen hatten diese Soldaten heute getötet – und trotzdem war ihnen der Appetit nicht abhandengekommen. Trotzdem konnten sie lachen. Ja, sie lachten laut und aus vollem Halse.
    Zunächst verstand sie nicht, was sie derart amüsierte. Später – die Rinde hatte sich so tief in ihre Hand gebohrt, dass Blut den Baumstamm herunterperlte – trug der Wind einige Sätze zu ihr. Sie lauschte erschaudernd – und fassungslos. Denn es waren ausgerechnet ihre heutigen Opfer, über die sie grölend spotteten.
    »Habt ihr den dummen Pfaffen gesehen?«, rief einer. »Er hat sich tatsächlich vor die Wilden gestellt, um sie zu schützen!«
    Er klopfte sich vor Belustigung auf die Schenkel, ein anderer dagegen schüttelte den Kopf. »Was für ein Narr muss er gewesen sein, dass er sein Leben für ein paar Rothäute hergab«, meinte er verächtlich.
    Die Frau schluckte schwer. Die Menschen, die der Soldat verächtlich Rothäute nannte, waren sie selbst, ihre Familie, ihr ganzer Stamm. Und der Pfaffe war niemand anderer als Bruder Franz.
    Tränen stiegen auf, als sie sich erinnerte, wie er gestorben war. Er war als Erster dieser Meute zum Opfer gefallen. Furchtlos hatte er sich den Soldaten entgegengestellt und das Kreuz hochgehalten, das er ansonsten über seiner Brust trug. Es hatte ihm keinen Schutz geboten. Gewehrsalven hatten ihn niedergemäht, hatten diesem langen, abenteuerlichen Leben so schnell und blutig und unbarmherzig ein Ende gesetzt. Im Jahr 1848 war Pater Franz mit den ersten Kapuzinern nach Chile gekommen, um die Mapuche zu evangelisieren – nicht aufdringlich oder gar gewalttätig wie andere Priester, sondern behutsam und freundlich. Nach und nach hatte er das Gespräch mit den Kaziken, den Stammesoberen, gesucht, hatte sich den Sitten der Mapuche angepasst, hatte mit ihnen nicht nur Lebenserfahrung, sondern auch Essen und Kleidung getauscht – und hatte irgendwann vorsichtig Freundschaft geschlossen. Er hatte bei ihnen gewohnt, seine Mission gegründet – und hatte nun sterben müssen wie ein wildes Tier.
    Die junge Frau biss sich auf die Lippen, um nicht laut aufzuschluchzen. Tonlos formten ihre
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