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Jenseits des Karussells: origin - Preisgekrönt und aufregend anders (German Edition)

Jenseits des Karussells: origin - Preisgekrönt und aufregend anders (German Edition)

Titel: Jenseits des Karussells: origin - Preisgekrönt und aufregend anders (German Edition)
Autoren: Ju Honisch
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Handarbeiten für junge Damen – das reizte sie alles nicht besonders, war weder spannend noch eine Herausforderung. Früher war es ihr ganz gut gelungen, die langweiligeren Unterrichtsthemen auf ein Minimum zu beschränken. Doch das war, bevor es Miss Colpin gegeben hatte.
    Jetzt war es immer an der Zeit, Englisch zu lernen, Französisch, Italienisch, Stickerei, Haushaltsführung, Aquarellieren, Klavier oder auch nur anmutig fürbass zu schreiten. Es gab auf der Welt kaum ein Fach, das Catty nicht lernen sollte, und offenbar auch keines, das die englische Gouvernante nicht unterrichten konnte. Das mochte beeindruckend sein, rang Catty gleichwohl keine Begeisterung ab. Auf rein intellektueller Ebene mochte sie die Vielfalt der Fertigkeiten bewundern, doch nichts davon trug dazu bei, ihr die Lehrerin sympathischer zu machen. Deren zynische Distanz war allzu spürbar, und Catty fühlte sich nicht nur physisch kalt in ihrer Gegenwart. Sie zitterte, ohne es zu zeigen. Warum sie so ängstlich auf die Frau reagierte, konnte sie sich nicht erklären, und sie hatte auch kaum je Zeit, darüber nachzudenken.
    Catrin war beschäftigt. Man hielt sie beschäftigt. Ihr Französisch war ziemlich gut, ihr Englisch beinahe exzellent. Selbst ihr Italienisch wurde immer besser. Ihre Stickereien blieben furchtbar – sie waren nie etwas anderes gewesen. Aber ihre Aquarelle rangen ihrer Lehrerin sogar so etwas wie ein schales Lob ab.
    „Sehr hübsch, mein Kind. Daraus könnte etwas werden.“
    „Ich bin nicht Ihr Kind, Miss Colpin.“ Es erschien ihr wichtig, sich selbst wie auch der Gouvernante diesen Fakt stets erneut zu vergegenwärtigen.
    Ihr Klavierspiel unterlag der konstanten Kritik, es sei zu gewaltsam und zu wenig sensibel.
    Besonders Lucilla mochte es nicht, wenn sie spielte. Seit Catrin das herausgefunden hatte, übte sie intensiv und langanhaltend. Wenn das so weiterging, würde sie vielleicht noch eine richtig gute Pianistin werden. Irgendwann. Allerdings spielte sie nicht sehr akkurat. Akkuratesse war nie ihre starke Seite gewesen, egal in was. Doch sie spielte mit dem unerschütterbaren Vorhaben, möglichst viel Lärm zu erzeugen, und das gelang ihr wirklich gut, besonders, seit sie sich die Klavierauszüge von Wagneropern besorgt hatte.
    Eines Tages war das Klavier aus dem Musikzimmer verschwunden.
    „Heute fangen wir mit Harfenstunden an“, verkündete Miss Colpin winterfrisch. Es sah ihr ähnlich, auch noch Harfe zu beherrschen.
    „Wo ist mein Flügel?“, fragte Catrin leise. Es schien ihr, als habe die Realität plötzlich einen leeren Fleck. Das Klavier hatte immer da gestanden. Sie hatte nie gewusst, wie sehr seine Anwesenheit sie an bessere Zeiten erinnerte: das Klavier ihrer verstorbenen Mutter. Ein Anker war es, ein Haltegriff.
    „Harfe ist sehr in Mode. Zudem ist sie ein weit damenhafteres Instrument“, belehrte Miss Colpin.
    „Wo ist mein Flügel?“, wiederholte Catrin. Ihr Blick war immer noch auf den Platz fixiert, wo das schwarze, messingverzierte Instrument am Vortag noch gestanden hatte. Wo es stehen sollte. Sie fühlte sich verloren ohne seinen Anblick. Es war ein Freund. Ein Andenken an die Vergangenheit.
    „Ich weiß, es wird dir Spaß machen, Harfe zu erlernen“, sagte Miss Colpin. Sie klang nicht so, als wollte sie ihre Schülerin überzeugen, sie stellte nur eine Tatsache fest, als ob Harfe nicht zu mögen nicht im Bereich des Möglichen lag.
    „Wo ist mein Klavier?“, fragte Catrin und starrte weiter auf den Boden, wo die Abdrücke des schweren Instruments im Teppich noch zu sehen waren. Sie empfand tiefe Trauer. Ihr war nicht klar gewesen, wie sehr das Instrument ein Sinnbild für ihre Mutter war.
    „Mein Kind …“
    „Ich bin nicht Ihr Kind, und das war das Klavier meiner Mutter. Ich will es wieder.“
    Die Gouvernante schenkte ihr einen jener Blicke, die sie sonst erbeben ließen und bei denen sie sich immer am liebsten im Kinderzimmer unterm Tisch versteckt hätte, vorzugsweise mit einer Tüte über dem Kopf. Diesmal funktionierte er nicht.
    Sie holte tief Luft, mauerte mentale Steine um ihre Seele, als müsse sie einen Schutzwall errichten, eine Burgwehr, die die Splitter irrationaler Furcht, die sich um ihr Herz sammelten, mit verzweifelter Entschlossenheit abwehrte.
    „Wo ist mein Klavier?“, fragte Catrin und konzentrierte ihren Geist auf diese einzige Frage. Es gelang ihr beinahe. Sie konnte fühlen, wie die überwältigende Präsenz ihrer Lehrerin ein wenig schwand.
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