Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Jenseits der Untiefen

Jenseits der Untiefen

Titel: Jenseits der Untiefen
Autoren: Favel Parrett
Vom Netzwerk:
nirgendwo zu sehen, nur tobendes Wasser. Nur Wasser. Er rief Harrys Namen, aber es kam nichts zurück.
    Die Pause zwischen den Wellen würde höchstens dreißig Sekunden dauern. Sie kamen stoßweise, und bei einer solchen Brandung, in der das Wasser auf Untiefen traf, konnten Monsterwellen entstehen. Bomben. Eine doppelt so groß wie die andere. Auf dem Surfbrett konnte man sie kommen sehen, Linien, die den Himmel und die Sonne verdeckten. Man paddelte weit hinaus ins Tiefe, bis weit hinter die Brandung. Wurde man von den Wogen umzingelt, ließ man das Surfbrett los, tauchte, so tief es ging, und betete, dass die Fußschlinge halten würde. Und wenn man Glück hatte, wurde man vom Wellenrücken bloß gestreichelt und ein bisschen herumgeworfen, aber man war in der Lage, aufzutauchen, kam wieder an die Luft. Letztendlich konnte man jedoch nichts beeinflussen. Der Ozean würde einen so lange unter Wasser gedrückt halten, wie er wollte, das wusste Miles.
    Er rief erneut nach Harry, er brüllte mit aller Kraft, die sein Körper noch besaß, und diesmal sah er einen Arm winken. Etwa fünfzehn Meter vor ihm wogte Harry auf dem Wasser auf und ab. Miles schwamm auf ihn zu, so schnell er konnte. Neue Wellenberge schoben sich zusammen, gewannen an Stärke, sahen gewaltig aus.
    »Harry, komm hinter mich.«
    »Miles!«
    »Harry, hinter mich. Halt dich fest.«
    Harry schaffte es kaum, seine Hände um Miles’ Nacken zu verschränken. Miles griff nach Harrys Beinen, legte sie sich um die Hüfte und schwamm hastig los.
    »Luft holen!«, schrie er.
    Er tauchte mit Harry ins Zentrum der nächsten Welle, die sie vollständig verschluckte. Es gelang ihnen, hindurchzuschlüpfen, aber der Ausläufer des Brechers zog sie mit sich zurück. Miles kämpfte hart, um dem Sog standzuhalten.
    Er fühlte sich schwer wie Stein.
    »Miles!«
    Noch eine Welle. Harry schluchzte. »Nicht untertauchen … Nicht. Bitte!«
    Miles steigerte den Beinschlag, ging zu Freistil über. Sie kamen vorwärts und trafen mit der höchsten Geschwindigkeit, zu der Miles in der Lage war, auf die noch glatte Vorderseite der nächsten Welle. Miles warf sich gegen die steile Wand. Wenn die Welle brechen würde, wenn sie über ihnen zusammenschlüge, wäre es vorbei. Miles griff aus, so weit er konnte, und mit einem langen Schwimmzug erreichten sie die Spitze, den Wellenkamm. Er hörte die Welle hinter sich tosend einstürzen, aber er drehte sich nicht um.
    Sie hatten es bis hinter die Brandung geschafft.
    Sie waren frei, tiefes, schwarzes Wasser unter sich. Ankerlos. Sie wurden auf die Hügel heranrollender Wellen hinaufgetrieben und wieder hinunter in riesige Wellentäler. Langsam schienen die zwei Meter hohen Brecher, mit denen sie sich auf dem Boot herumgeschlagen hatten, auf Sturmhöhe anzuwachsen. Drei Meter hoch waren sie jetzt vielleicht, dachte Miles, der Wind aus Südwest gab den Wellen zusätzlich Kraft. Und er wirbelte so viel Gischt auf, dass es Salz regnete.
    Sie befanden sich weit jenseits der Inseln. Die Felsen und das Riff waren verschwunden.
    Es gab kein Land mehr.
    Miles verfiel in einen langsamen Rhythmus, er schlug gerade nur so stark mit den Beinen, dass sie in Bewegung blieben, und nachdem das Adrenalin verbraucht war, spürte er die Kälte.
    Der Wind stach ihm ins Gesicht, in den Kopf unter den nassen Haaren. Er wusste, dass man mit jeder Bewegung der Gliedmaßen mehr Wärme verlor. Das Blut drängte an die Hautoberfläche, wo es seine Wärme ans Wasser verlor. Also musste man sich ruhig verhalten. Langsamer werden. Versuchen, nicht einzuschlafen.
    »Ich habe Angst«, sagte Harry.
    Miles wollte Harry nicht merken lassen, dass auch er Angst hatte. »Wir müssen nur warten, Harry. Wir schaffen das.«
    »Und was ist mit Haien?«
    Miles hörte die Angst in Harry Stimme. Die Tränen.
    »Keine Haie, Harry.«
    Es war anstrengend, zu sprechen, und der Wind riss ihm die Worte vom Mund weg. Miles musste schreien, damit Harry ihn verstehen konnte. Er kontrollierte seine Hände. Sie waren aufgerissen und zerkratzt. Nicht blau, noch nicht, aber das Wasser fühlte sich allmählich warm auf der Haut an.
    Harrys Weinen beruhigte sich nach einer Weile, aber Miles spürte, wie sein Bruder zitterte. Es wurde schlimmer – das Zittern schüttelte seinen kleinen Körper, als versuchte es, den Motor am Laufen zu halten.
    »Harry? Alles in Ordnung?«
    »K-k-kommt D-Dad?« Harrys Zähne klapperten wie verrückt.
    »Hast du den Pullover an,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher