Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Jenseits der Untiefen

Jenseits der Untiefen

Titel: Jenseits der Untiefen
Autoren: Favel Parrett
Vom Netzwerk:
aber es kam kein Laut, nur das dumpfe Schlagen der verrinnenden Sekunden: eine, zwei. Dann endlich, eine Million Sekunden zu spät, geschah es. Er schrie mit der ganzen Kraft seiner Stimme Harrys Namen.
    Er spürte sein Blut rasen, als eine neue Welle gegen das Boot schlug. Er kletterte über die Reling, bereit, zu springen, aber Dad griff nach ihm – hielt ihn felsenfest umklammert.
    Es nützte nichts.
    » HARRY !«
    Miles sah Harrys Arm aus dem Wasser aufragen. Er sah sein Gesicht in diesem wirbelnden Durcheinander. Die Strömung hatte ihn erfasst, wild schlug er mit den Armen um sich, den Mund geöffnet. Er wurde abgetrieben, trieb ins offene Wasser.
    »Du erinnerst dich«, sagte Dad und hielt Miles fest. »Du erinnerst dich doch, oder?«
    Und immer weiter schüttelte er Miles, drehte ihm den Kopf vom Wasser weg, weg von Harry.
    »Sie waren tot, als ich das Auto gefunden habe.«
    Und Miles wurde ganz ruhig.
    Er konnte Harry jetzt nicht mehr sehen. Er konnte ihn nirgendwo sehen. Da war nur Wasser. Nur die Massen aufgewühlten Wassers.
    »Sie wollte mich verlassen.«
    Dad zog Miles an sich, so nah, dass Miles nichts als sein Gesicht erkennen konnte. Dad sah aus, als würde er weinen. Als hätte ihm jemand etwas Schlimmes angetan.
    »Ich musste ihn wegschaffen, Miles. Ich musste dich dalassen. Er war bereits tot, und man hätte es herausgefunden. Alle hätten es gewusst.«
    Mit aller Kraft, die ihm noch blieb, versuchte Miles, Dad von sich zu stoßen. Er schob die Arme nach vorn, stützte sich mit dem Rücken an der Reling ab. Und er schrie nach Harry. Er schrie seinen Namen, wieder und wieder. Und er spürte, wie Dad sich bewegte, wie sich sein Griff lockerte.
    »Du bist mein Sohn«, sagte Dad.
    Dann ließ er Miles los.
    Miles machte einen Schritt, fasste nach der Reling und sah zurück zu Dad, der reglos dastand, die Augen geschlossen, mit hängenden Schultern. Dann sprang Miles ins Wasser. Er hechtete hinein.
    Die Kälte umschloss ihn, nahm ihm die Luft, aber seine Beine schlugen kräftig aus, und er kämpfte sich durch die Wirbel. Er öffnete die Augen, suchte die Oberfläche ab, aber dort war nichts. Er streckte die Arme aus, trat stärker mit den Beinen. Er schwamm ins offene Meer, tauchte unter. Inmitten von Luftblasen und Licht fand seine Hand Harry, dessen Körper schlaff im Wasser umhertrieb. Miles zog ihn mit sich an die Oberfläche, aber dort war nur Chaos. Wind und Lärm – schweres, dickes weißes Wasser. Sie waren direkt in der Brandung. Sie waren bereits dicht vor den Felsen von Flat Witch, an denen sich die Wellen brachen.
    Miles hielt einen Arm ausgestreckt, während Harry schwer in seinem anderen hing; seine Hand schrammte über die schleimigen Felsen. Aber da war nichts zum Festhalten. Das Wasser war zu wild. Sein Körper schlug immer wieder auf den harten zerklüfteten Felsen auf; scharfe Vorsprünge stachen ihm in den Rücken, die Schultern, den Kopf. Er konnte nichts weiter sein als ein Puffer zwischen Harry und der Felswand. Harry lag leblos in seinem Arm, die Augen zu. Und Miles wusste, er würde es nicht schaffen, mit Harry hier rauszukommen, sie beide an Land zu ziehen. Er musste weit hinausschwimmen, weit hinter die Brandung. Er musste ins Tiefe schwimmen und es an einer anderen Stelle der Insel versuchen.
    In einer Pause zwischen den Wellen stieß er sich von den Felsen ab und schwamm auf die sich auftürmenden Wogen zu. Als die erste zu brechen drohte, griff er fest in Harrys Haare, dicht über der Kopfhaut. Er drückte Harry unter, und mit der freien Hand grub er sich ins Wasser hinunter. Ein Schwimmzug. Zwei. Drei. Die Welle traf sie mit voller Kraft, sie überschlugen sich, wirbelten herum wie Seetang, wieder und wieder, endlos im Kreis. Das Einzige, was Miles inmitten der Luftblasen sehen konnte, war das Weiß des aufgewühlten Wassers. Er wusste nicht, wo oben war, bis die Welle sie freigab. Die Orientierungslosigkeit ließ nach. Miles hob seinen Blick zum Licht und trat mit den Beinen das Wasser, bis er die Oberfläche durchbrach.
    Harry würgte und hustete.
    Er war bei Bewusstsein.
    Aber schon stürzte vom nächsten Wellenberg eine weiße Kaskade herab. Miles griff wieder in Harrys Haare, aber die Welle traf sie mit solcher Wucht, dass Harry seinem Griff entglitt. Er war allein in freiem Fall, seine Brust in Flammen, die Lungen leer. Seine Arme, die jetzt frei waren, streckten sich verzweifelt der Oberfläche entgegen. Ein Schwimmzug. Zwei. Drei. Vier.
    Luft.
    Harry war
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher