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Jenseits der Untiefen

Jenseits der Untiefen

Titel: Jenseits der Untiefen
Autoren: Favel Parrett
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dass es aussah, als gäbe es dort überhaupt keine Wellen. Er saß einfach nur im Wasser. Er saß da, und Harry hatte Hunger und konnte nicht aufhören, an die Sandwiches zu denken. Die Sandwiches mit Käse und Chutney.
    »Ich habe keines gefunden. Kein Haifischei.«
    Joe kämpfte mit seinem Neoprenanzug, bekam die Arme frei, wand sich keuchend und sah Harry nicht an. »Vielleicht nächstes Mal«, sagte er, aber Harry glaubte nicht daran.
    Als Joe sich endlich angezogen hatte, begann er, die Picknicksachen aus dem Dinghy auszuladen, die Thermoskanne und die Konservendosen, die Wolldecke und die Sandwiches. Wenn sie nur nicht auf Miles warten müssten – Harry würde es nicht schaffen, auf Miles zu warten, auch wenn Joe das wollte, denn Miles blieb manchmal ewig da draußen im Wasser, selbst wenn es eisig war, und Harry musste jetzt einfach ein Sandwich haben.
    »Dieser Ort hier ist alt«, sagte er, den Mund voller Brot.
    Joe brummte etwas, aber er hörte nicht richtig zu. Er war woanders, vielleicht noch da draußen im Wasser mit Miles. Aber das machte nichts.
    Dieser Ort war alt. Harry wusste es.
    So alt wie die Welt.

M iles stieg gemeinsam mit den Männern ins Dinghy, mit Martin, Jeff und Dad, und er sagte nichts. Niemand sagte etwas auf dem Weg zum Boot. In der morgendlichen Dunkelheit zu Hause hatte Miles es nicht geschafft, seinen Toast zu essen, was er jetzt, als es dämmerte, bereute.
    Sein Magen war leer an diesem ersten Tag.
    Der erste Tag der Schulferien. Der erste Tag, an dem er allein auf das Boot aufpasste, während die Männer ins Wasser gingen. Er war alt genug, diesen Platz einzunehmen. Wie sein Bruder vor ihm musste er die Lücke füllen, die Onkel Nick hinterlassen hatte.
    Weil das Boot jetzt der Bank gehörte. Weil alles der Bank gehörte.
    Das Boot tuckerte und knatterte durch die anstürmenden Wellen, und Miles spürte, wie die Strömung es ergriff und hart an ihm zog. Sie war schwach, die
Lady Ida
, sie wirkte alt, und die Fahrt ging langsam voran. Sie pflügte durch die tiefste Stelle der Rinne und ließ eine breite Spur von Wellenkämmen im Fahrwasser zurück. Miles war klar, dass es hier geschehen sein musste. Hierher hatte es Onkel Nick hinausgezogen, allein im Dunkeln, wo die Kabbelung am stärksten war.
    Sie hatten ihn nie gefunden.
    Nicht ein Stück.
    Nicht seine Mütze.
    Nicht seine Stiefel.
    Nicht seine Knochen.
    Nur das Dinghy, das verlassen umhertrieb, leer und blank gewaschen.
    Heute redete niemand mehr davon, aber damals hatte Dad davon geredet. Er hatte gesagt, dass Onkel Nick wahrscheinlich hinausgefahren sei, um den Anker zu überprüfen. Er hatte gesagt, er würde sich das nie verzeihen.
    Das Boot war fast neu gewesen, es hatte draußen an der Mündung zur Bucht geankert, weil die Dünung stark gewesen war – eine hohe Winterdünung – und alle Boote dort draußen lagen. Aber Nick hatte keine Ruhe gegeben. Er hatte nicht aufgehört, sich Sorgen um das Boot zu machen. Dad hatte gesagt, im Pub habe Nick von nichts anderem geredet, und am Ende habe er Nick gesagt, er solle rausfahren und nach dem verdammten Ding sehen. Rausfahren und nachsehen oder die Klappe halten.
    Und Miles wusste genau, wie dunkel es in jener Nacht gewesen war, der Himmel schwarz von Wolken, die so dicht waren, dass nichts durchdrang – keine Sterne, kein Mond. Onkel Nick hatte weder das Dinghy sehen können noch das Land oder die eigene Hand vor Augen.
    Und man hatte ihn da draußen vergessen, weil es die Nacht gewesen war, in der der Unfall passierte.
    Es war die Nacht, in der alles anders wurde.
     
    Martin stand dicht bei ihm, berührte seine Schulter.
    »Es wird alles gutgehen«, sagte er.
    Dad und Jeff waren in der Kajüte. Jeff starrte ihn schon wieder an, und Miles sah weg. Er zog die gelbe Windjacke über den Pullover. Dad hatte keine passende Jacke für ihn gehabt, und er musste eine Männergröße tragen. Die Jacke war wie ein Sack, die Ärmel hingen weit über seine Hände herunter. Er könnte genauso gut gar keine tragen. Er wäre am Ende sowieso völlig durchnässt. Der einzige Körperteil, der warm bleiben würde, wäre sein Kopf unter der engen Wollmütze, die juckte.
    Er krempelte die Ärmel auf, zog seine Handschuhe an.
    Bruny zeichnete sich im neuen Licht des Morgens ab.
    Miles sah zu, wie sich die Farbe der Wasseroberfläche veränderte, wie das Wasser lebendig wurde. Und obwohl sie noch immer weit draußen waren, fern vom Land, gab es Stellen, wo das Wasser anschwoll, als wollte es
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