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Jenseits Der Unschuld

Jenseits Der Unschuld

Titel: Jenseits Der Unschuld
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noch mehr, als ihr klar wurde, dass jenseits der Unschuld die nächste Nummer war, die aufgerufen wurde.
    Mara setzte sich auf einen Stuhl am Mittelgang in der letzten Reihe. Sie war groß genug, um über die Köpfe der Anwesenden hinweg den Vlaminck sehen zu können, der auf dem Podium versteigert wurde. Die gebotene Summe betrug zweihunderttausend Dollar. Maras Mund war wie ausgetrocknet. Sie schlug den Katalog auf und fand den Eintrag für das Bild ihrer Großmutter, von dem diese so viel gesprochen hatte.
    Kat. Nummer 1502. jenseits der Unschuld von Sofie O'Neil, 190211903. Öl auf Leinwand. Herkunft - Anonym.
    $500000.
    Mara klappte den Katalog zu. Sie wünschte, ihre Großeltern wären noch am Leben. Wie glücklich wären die beiden, dass jenseits der Unschuld schließlich doch wieder aufgetaucht war, nachdem es einundneunzig Jahre als verschollen galt. Beide Großeltern waren 1972 innerhalb von sechs Monaten hintereinander gestorben, beide über neunzig, geistig rege und munter bis ins hohe Alter - und bis zum letzten Tag ihres Lebens in Liebe verbunden.
    Maras Großmutter hatte ihr erzählt, jenseits der Unschuld sei unmittelbar nach ihrer ersten Ausstellung 1902 in New York von einem russischen Aristokraten gekauft worden, der das Gemälde seiner Kunstsammlung einverleibte und in eines seiner Schlösser bei St. Petersburg brachte. Dieses Schloss wurde während der russischen Revolution zerstört, und das Bild galt als vernichtet.
    Doch irgendwie wurde es gerettet und nach Argentinien geschafft. Niemand wusste, wie lange es in Südamerika blieb. Jedenfalls wurde das Gemälde aus Buenos Aires bei Christie's eingeliefert. Seit Christie's die Versteigerung des lange verschollen geglaubten Gemäldes angekündigt hatte, strömte die New Yorker Kunstwelt herbei, um es zu bewundern. Einem Gerücht zufolge war der spätere Besitzer, der seine Anonymität um jeden Preis zu wahren suchte, einer der letzten Nazibonzen, der nach dem Untergang des Dritten Reiches aus Deutschland geflohen war und Unschuld gemeinsam mit anderen bedeutenden, von den Nazis erbeuteten Kunstwerken nach Südamerika geschafft hatte. Das Werk war seit dem Erwerb durch den russischen Adeligen nie wieder in der Öffentlichkeit gezeigt worden; es existierten keinerlei Reproduktionen und auch keine Fotografien davon. Daher pilgerte die gesamte New Yorker Kunstszene in der Woche der Vorbesichtigung zum Auktionshaus Christie's.
    Auch Mara hatte die Vorbesichtigung wahrgenommen. Sie war vom Porträt ihres Großvaters überwältigt und unendlich stolz auf ihre Großmutter. Nicht nur auf ihr Talent als Malerin, sie bewunderte auch ihre Zivilcourage und ihre große Liebe.
    Die Kritiker bezeichneten es als bedeutendstes Werk der >frühen Periode< ihrer Großmutter und zugleich als eines der wichtigsten Werke ihres gesamten Schaffens, nicht nur wegen seiner Schönheit und Kraft, sondern auch aufgrund der Thematik. Mara hatte den Mut ihrer Großmutter stets bewundert. Es muss für eine Malerin zu jener Zeit unendlich schwierig gewesen sein, sich durchzusetzen. Sofie O'Neil hatte überkommene Tabus gebrochen, und sich nicht gescheut, einen Skandal auszulösen und von der Zensur verboten zu werden, als sie es wagte, einen männlichen Akt in so freizügiger Manier zu porträtieren.
    »Katalognummer 1502«, verkündete der Auktionator, und die runde Bühne begann sich zu drehen. Der Vlaminck verschwand, und jenseits der Unschuld wurde sichtbar. Mara entfuhr ein kleiner Schrei, Tränen stiegen ihr in die Augen. Der Auktionator erklärte: »Wir haben ein Gebot von einhunderttausend Dollar. Höre ich zwei?«
    Maras Herzschlag setzte aus. Atemlos blickte sie auf das von ihrer Großmutter gemalte Porträt des Großvaters. Es war überwältigend. Er sah so verwegen und schön aus, dass man das Gefühl hatte, er steige jeden Moment von der Leinwand ins Publikum. Eine Gänsehaut rieselte ihr über den Rücken. Ein großes Kunstwerk, kraftvoll und expressiv. Mit diesem Blick hatte Edward Delanza ihre Großmutter vor langer, langer Zeit angesehen.
    Die Gebote überschlugen sich. Mara entdeckte drei ausdauernde Bieter, zwei Männer und eine Frau. Der eine Bieter war ein junger saudischer Prinz, der bei Christie's hoch angesehen war, seit er vor vier Jahren zwei Millionen für einen Monet hingeblättert hatte. Der andere Bieter war ein Agent für einen japanischen Sammler.
    Mara wusste nicht, wer die Frau war. Sie war Mitte Dreißig, trug einen anthrazitgrauen Hosenanzug von
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