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Jenseits der Finsternis

Jenseits der Finsternis

Titel: Jenseits der Finsternis
Autoren: Michael Nagula
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beruhigte er sich in der gewohnten Umgebung. Schmieriger Kunststoff, kaltes, künstliches Licht, Geruch von Schweiß und Chemie; Mi Morton legte ihm einen Stoß Papier auf die Tischplatte.
    »Das hat Seltack Ihnen dagelassen«, sagte sie.
    Niemann schaute ohne Interesse auf die Papiere. Er wußte, was da auf ihn zukam. Seltack leitete die Propagandaabteilung für die Raumstadt. Mit halber Aufmerksamkeit blätterte er die Papiere durch. Ganz oben lagen die neuen Parolen: Neues Leben aus dem All! Die Raumstadt braucht euch – ihr braucht die Raumstadt! Dann kamen Berichte des Bürgerschutzes über die mangelnde Begeisterung der Öffentlichkeit und Vorschläge für neue Propagandamaßnahmen. Der Rest, drei Viertel des ganzen Stapels, waren Zuschriften von Psychopathen, anonyme Beschimpfungen, namenlose Hilferufe, das Leben wieder menschlich, lebenswert werden zu lassen.
    »Darf ich diese ekelhafte Bluse ausziehen?« fragte Mi Morton. »Sie klebt auf der Haut. Irgend etwas ist mit der Klimaanlage wieder nicht in Ordnung.«
    Die Sekretärin wartete Niemanns Antwort nicht ab, knöpfte die Bluse auf und warf sie zusammengeknüllt auf den Schreibtisch. Dann lief sie mit müden, schlaffen Bewegungen durch das enge Büro. Schweigen. Zwei gefangene Tiere.
    Plötzlich blieb Mi Morton vor Niemann stehen und sagte: »Gestern hätte ich beinahe mit einem Mann geschlafen. Zum erstenmal. Wir waren schon fast soweit, dann haben wir aufgehört. Wir hatten keine Lust mehr.«
    »Früher hat die Liebe Spaß gemacht«, sagte Niemann und versuchte, beim Anblick der nackten Brüste der jungen Frau etwas zu empfinden.
    »Sie mit Ihrem ewigen Früher«, schimpfte Mi Morton.
    Widerwillig begann Niemann die Unterlagen für eine neue Werbekampagne der N.O.A.H. durchzuarbeiten, ein infantiles Preisausschreiben zum Thema »Warum wir die Raumstadt N.O.A.H. brauchen«. Quälend langsam verging der Tag.
    Quälend langsam verliefen die nächsten Wochen. Unter den Kuppeln wurde die Durchschnittstemperatur um ein Grad herabgesetzt und die Luftfeuchtigkeit erhöht. Im Kalender hatte der Herbst begonnen. Wie mochte es draußen aussehen?
    Die Widerstände, mit denen Niemanns Transportabteilung zu kämpfen hatte, wurden immer größer. Keine Stadt war mehr bereit, freiwillig Material an die N.O.A.H. zu liefern, immer wieder mußte brutaler Druck ausgeübt werden.
    Immer wieder brach eines der wenigen Fuhrunternehmen zusammen, immer länger dauerte es, bis wieder eine der Transportraketen zur Raumstadt voll beladen war. Die N.O.A.H. mußte buchstäblich um jedes Kilogramm kämpfen.
    Seltacks Werbeaktionen verfolgte Niemann nur mit Überwindung. Der Gegensatz zwischen der Wirklichkeit einer verwüsteten Erde und den Aufrufen für die Raumstadt wurde immer größer: »Ohne euch ist N.O.A.H. verloren – ohne N.O.A.H. seid ihr verloren!«
    Dann kam die Nachricht, daß Seltack gestorben sei. Chronische Verätzung der Atmungsorgane. Kurz darauf wurde Niemann von der Leitung der N.O.A.H. vorgeladen. »Die wollen mir Seltacks Arbeit aufhalsen«, schimpfte Niemann.
    Wenige Tage später machte er sich auf die Reise zum Raketengelände. Der Flug zum Mond und von dort zur Raumstadt verlief planmäßig. Zum erstenmal sah Niemann das gewaltige Rad am Himmel stehen – ein Anblick jenseits aller Phantasie.
     
    Die Passagiere hatten sich in den weiträumigen Anlagen des Raumhafens schnell verlaufen. Unschlüssig ging Niemann zu den Empfangsräumen. Die Ruhe, die Leere, und die Größe der Anlage verwirrten ihn. Eine Hosteß lächelte ihm zu: »Kann ich Ihnen helfen?« Mit herzlicher Geste streckte sie Niemann die Hand entgegen. Unbewußt zögerte Niemann. Solch ein Gesicht hatte er seit langem nicht mehr gesehen: gesunde, braune Haut, strahlende Augen und echte Haare! Einen Augenblick lang mußte er an das verfallene, fleckige Gesicht Mi Mortons denken, dann lächelte er der Hosteß zu und schlug in ihre Hand ein. Das Mädchen brachte ihm etwas zu trinken und schaute teilnahmsvoll, als er aus Verlegenheit und ganz mechanisch zur Sauerstoffdusche griff. »Die brauchen Sie hier nicht«, sagte sie freundlich. Niemann nickte. Seit vielen Jahren hatte er keine so reine, frische Luft geatmet. Die Hosteß meldete ihn für den nächsten Vormittag bei der Leitung und beschrieb Niemann den Weg zu seinem Hotel. Mit dem Fahrstuhl fuhr er nach oben, in das Innere der Raumstadt, das Innere eines großen Rades, das sich langsam und unmerklich um seine Achse drehte und dadurch seine
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