Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Jenseits der Finsternis

Jenseits der Finsternis

Titel: Jenseits der Finsternis
Autoren: Michael Nagula
Vom Netzwerk:
grauen, stillen Häuser. Leere Fensterhöhlen glotzten ihn abweisend an.
    »Verdammt, so spät …« Und er hatte immer noch nichts zu essen gefunden! Und seine Alten saßen zu Hause und warteten darauf, daß er was heimbrachte.
    Aber woher? Es gab nichts mehr. Wohin er schaute – nur vernagelte Schaufenster, verbarrikadierte Türen, leergeplünderte, rauchgeschwärzte Ladenruinen. Vor ein paar Jahren war dies noch die eleganteste Einkaufsstraße der Stadt gewesen. Und nun …
    »Alles im Eimer.« Blues Stimme rasselte. Wahrscheinlich hatte er sich erkältet. Aber warum sollte es ihn nicht auch erwischen? Viele seiner Freunde waren schon in der eisigen Umarmung des Winters umgekommen.
    Besser, er dachte nicht daran. Sein Blick fiel auf ein Fenster im vierten Stock eines Steinkolosses. Licht flackerte hinter den trüben Scheiben. Der alte Justizpalast. Da fanden sich immer noch ein paar Aktenordner, die man verheizen konnte. Seltsam, daß eine Welt, die so im Chaos endete, soviel Bürokratie hinterlassen konnte.
    Irgendwie spendete die gelbe Lichtinsel in der graublau erstarrenden Dämmerung Blue ein wenig Trost. Da oben hatte es jemand trocken und warm, wenigstens für diese Nacht.
    Natürlich war der Unbekannte ein Narr. Er forderte andere geradezu heraus, seinen Reichtum zu rauben. Wahrscheinlich belagerten schon schweigsame Schattengestalten das Büro im vierten Stock. Bald würden sie aus der Finsternis des Flurs in das helle Zimmer stürzen, und der arme Narr würde seinen Leichtsinn büßen. Menschen waren schon wegen einer einzigen Kerze umgebracht worden.
    Blue stolperte in ein halb vom Schnee zugewehtes Geschäft. Le Gourmet hatte es vor ein paar Jahren geheißen, das klang besser als der alte Name Feinkost-Richter. Die Leute waren so übersättigt gewesen, daß sie von weither gekommen waren, um neuseeländische Muscheln zu kaufen, weil ihnen die italienischen zu gewöhnlich waren. Heute fraß jeder alles, was man beißen konnte und was nicht stank.
    The times, they are a-changing.
    Eine Hand packte Blue an der Schulter, wirbelte ihn herum und stieß ihn in eine fensterlose Kammer.
    »Was schnüffelst du hier herum?« grollte eine Männerstimme, die klang, als hätte der Unbekannte das Sprechen schon halb verlernt.
    Ein bärtiger Mann stand vor ihm, in blau-rot gestreiften Moon-Boots und einem schweren Militärmantel, um den er zusätzlich eine Art Trachten-Cape gelegt hatte. Ein bunter, selbstgestrickter Schal war um seinen Hals gewickelt.
    In seiner Hand funkelte ein Rasiermesser.
    »Rühr dich nicht vom Fleck«, drohte er, »oder ich mach dich kalt.«
    »Ich bin schon kalt«, sagte Blue.
    Es war ein blödsinniger Satz, der ihm einfach rausgerutscht war. Die Augen des Bärtigen zeigten einen vagen Anflug von Emotion. Die Hand mit dem Rasiermesser sank herab.
    »Soso, du bist schon kalt.« Er suchte nach Worten. »Ja, es ist eine kalte Zeit«, sagte er schließlich. »Die Herzen erstarren im Frost. Die kalte Vernunft regiert wie eh und je.«
    Blue hatte keinen Sinn für philosophisches Geschwätz. Er hatte Hunger. Und in einer Ecke des Raumes brutzelte auf einem Spirituskocher eine Mahlzeit. Im schwachen Schein eines Windlichts sah es aus wie Gulasch. Der Geruch brachte ihn fast um den Verstand.
    Er starrte den Mann wieder an. Irgendwie hatte er das Gefühl, ihn zu kennen. Aber das war sicher ein Irrtum. Heutzutage sahen alle gleich aus, hohlwangig, bärtig, mit glänzenden Augen.
    Der Mann mißverstand den Blick. Er deutete auf seinen Schal, der in dieser Umgebung unangemessen fröhlich wirkte.
    »Ein schöner Schal«, sagte er. »Den hat meine Frau gestrickt, bevor …« Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht.
    Diesen Augenblick nützte Blue. Er sprang nach vorn, und mit einem weitausholenden Spreizschritt trat er dem Mann in die Magengrube. Es war eine Bewegung wie früher beim Fußball, wenn er den Ball volley aus der Luft nahm.
    Als sich der Mann schmerzerfüllt vornüberkrümmte, riß Blue sein Knie hoch und stieß es ihm mit voller Wucht unters Kinn. Mit einem zornigen Schrei ging der Bärtige zu Boden. Seine Augen waren groß und hilflos wie bei einem verwundeten Tier.
    Blue riß den Kessel vom Feuer und rannte hinaus auf die Straße. Ziellos stürmte er durch das Schneegestöber, schlug Haken, bog um zahllose Ecken, bis er sicher war, daß er nicht verfolgt wurde.
    Zitternd kauerte er sich in eine demolierte Telefonzelle. Sein Herz raste. Er schwitzte. Der grotesk zerschmolzene Hörer baumelte
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher