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Jenseits der Eisenberge (German Edition)

Jenseits der Eisenberge (German Edition)

Titel: Jenseits der Eisenberge (German Edition)
Autoren: Sandra Gernt
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täuschen musste, gleichgültig, wie viele Wunden er dadurch schon davongetragen hatte; denn hätte er sich niemals gegen sein Schicksal gestemmt, wäre er nicht auf diese Weise verletzt worden.
    Lys schlang sich Bogen und Köcher mit mechanischen Bewegungen über die Schulter, wischte sich die dunkelblonden Haare aus der Stirn und folgte dem Wächter zurück zur Weidenburg. Seine Gedanken rasten. Im Augenblick sollte Kirian sich eigentlich über zweihundert Meilen südwestlich von hier aufhalten, in der Provinz Urrat. Dort gab es Unruhen, der Landesherr wollte sich vom Königreich lossagen. Genau der richtige Ort für Kirian und seine Männer, ein wenig an ihrer Legende zu arbeiten und spektakuläre Scheinangriffe gegen königliche Soldaten zu führen – und zugleich die Absichten des Grafen zu prüfen. Möglicherweise konnte er ein wertvoller Verbündeter für Lys werden, dessen politische Lage weiterhin gefährlich war. König Maruv war nur einer von seinen Feinden, er musste sich vor allem gegen seinen Schwiegervater, Fürst von Lichterfels, behaupten, und sein eigener Vater misstraute ihm. Erebos von Corlin wusste zwar nicht, dass Lys es gewesen war, der Roban getötet hatte, seinen eigenen Bruder; der Verlust seines Lieblingssohns und Erbens aber hatte den alten Mann gebrochen und dem schon immer schlechten Verhältnis zu Lys noch mehr geschadet.
    Lys betrachtete den Dolch in seiner Hand. Wie beim dreigehörnten Schattenfresser kam Kirians Waffe in den Besitz irgendeines Jungen?
    „Ist der Gefangene bereits verhört worden?“
    „Nein, Herr. Er befindet sich im Verlies, wir haben ihn lediglich durchsucht und in Ketten gelegt.“ Lys nickte und eilte im Sturmschritt über die Verteidigungswälle in die Burg hinein. Er hatte viel Kraft und Zeit investiert, um die Weidenburg zu einer uneinnehmbaren Festung auszubauen, nachdem es Söldnern gelungen war, hier einzudringen und verheerenden Schaden anzurichten. Zwar wäre es den Männern ohne den Verräter, der ihnen die Tore geöffnet hatte, weitaus schwerer gefallen, die Mauern zu erobern, aber Lys wollte alles in seiner Macht Stehende versuchen, dass es niemals mehr soweit kam. Sein eigener Bruder hatte den Überfall befohlen … Roban. Noch immer hatte Lys diesen Schmerz nicht überwunden. Schnell drängte er die Erinnerung zurück.
    Während er über den Burghof marschierte, suchte sein Blick unwillkürlich nach Schwachpunkten, nach Fehlern und Nachlässigkeiten. Doch die wachhabenden Gardisten waren aufmerksam, die Knechte und Mägde in Ställen und Küche fleißig, alles war sauber und ordentlich. Lys war stolz auf die Wassersysteme, die er hatte einbauen lassen, nachdem er sie bei einem verbündeten Adligen an der Nordküste kennen und schätzen gelernt hatte: Weidenburg besaß Rohre und Kanäle, die frisches Wasser von einem nahen See mittels Wasserräder in die Burg beförderten und die Abwässer in eine Sickergrube schwemmten. Im Winter konnte das Wasser in Kesseln aufgefangen, erwärmt und dann durch Rohre geleitet werden, die dicht unterhalb des Steinfußbodens eingebaut worden waren.
    Alle hatten Lys für verrückt erklärt, als er „halb Weidenburg abgerissen hatte“, wie man ihm spöttisch unterstellte. Bis sie im Winter den warmen Fußboden bestaunen, die Sauberkeit in allen Fluren genießen, die Vorteile von schnell verfügbarem Wasser erkennen konnten. Einige Adlige hatten bereits begonnen, ihre unbequemen Burgen umzubauen. Lys hatte Pläne, für seine Bauern Wasserleitungen zu erschließen, um die Bewässerung der Felder zu vereinfachen. Das würde nicht nur die Ernten verbessern, sondern auch sein Ansehen beim Volk weit über die Grenzen von Weidenburg hinaus. Nichts brauchte er im Moment dringender, denn seine Feinde verbreiteten unermüdlich Gerüchte, dass er ein kaltblütiger Intrigant war, der jeden, der ihm hinderlich war, umbringen ließ.
     
    „Ihr wartet hier draußen“, befahl er Foryth und den beiden Wächtern, die vor der Kerkertür Posten bezogen hatten.
    „Seid Ihr sicher, Herr? Er kann Euch nichts anhaben, aber es ist fast noch ein Kind – ihn zu befragen wird nicht angenehm …“
    „Ihr wartet hier“, wiederholte Lys mit Nachdruck. Die Männer gehorchten ohne weitere Frage und händigten ihm die Schlüssel aus. Wenn er diesen finsteren Tonfall annahm, wagte niemand mehr zu widersprechen. Daran hatte er jahrelang gearbeitet!
    Lys schloss die schwere Eisentür sorgfältig von innen ab. Die Wächter hatten keine
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