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Je mehr ich dir gebe (German Edition)

Je mehr ich dir gebe (German Edition)

Titel: Je mehr ich dir gebe (German Edition)
Autoren: Beate Dölling
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noch da? Hören Sie mich? – Haben Sie mich verstanden? – Ist jemand bei Ihnen?«

KAPITEL 3
    Durchsichtig
    Im Krankenhaus ist jemand bei ihr. Mama. Sie krallt die Finger in Julias Arme. Das ist das Einzige, was Julia spürt. Nicht den weißen Fußboden unter sich, nicht die weiße Decke über ihr; sie könnte genauso gut im Raum schweben, wie ein Astronaut in seiner Raumkapsel. Gedanken scheuern ihre Augen wund. Keine Tränen.
    Stimmen. Türen schwingen. Leere Betten fahren vorbei.
    Gummischritte, quietschend.
    Ihre Ellenbogen zittern, die Knie auch.
    Ein Arzt spricht zu ihnen. Ja, Jonas sei verstorben. Schwester Petra hätte ihr das am Telefon gar nicht mitteilen dürfen. – Hatten sie das nicht gerade im letzten Sprech-Workshop durchgespielt, als sie für einen Krimi die Überbringung von Todesmitteilungen geübt hatten? Plötzliches Verscheiden darf nicht telefonisch übermittelt werden, nicht von Ärzten und schon gar nicht von Schwestern. Dafür muss die Polizei persönlich zur Wohnung der Angehörigen gehen, eventuell in Begleitung eines Seelsorgers. Diese Regeln flattern ihr wie Spruchbänder vor Augen. Sie möchte sie herunterreißen, aber sie kann sich nicht rühren.
    Der Arzt entschuldigt sich für Schwester Petra; Schwester Petra sei heute das erste Mal auf der Zentralen Notfallstelle und sei völlig überfordert.
    Der Arzt sieht Julia lange und prüfend an, er will wissen, ob sie ihn versteht. Seine Worte blubbern wie Luftblasen aus seinem Mund, steigen auf und platzen. Sie ist unter Wasser, versunken – wirbelt mit jedem Schritt Schlamm auf. Das Wasser wird dunkel, schwarz. Mamas Finger krallen noch mehr und zwingen sie, wieder aufzutauchen, Luft zu holen. Julia sieht sich von oben neben Mama stehen. Wo sind eigentlich Jonas’ Eltern? Sie arbeiten in Köln. Sind sie schon unterwegs? Mit dem Auto? Fahren sie selber? Können sie überhaupt noch fahren, rechts und links abbiegen, nach so einer Nachricht?
    »Schädelbasisbruch«, sagt der Arzt. »Der Hirntod setzte um 17:12 Uhr ein.«
    Mamas Finger entgleiten ihr. Julia muss wohl ausgerutscht sein. Ihr ist schlecht. Sie würgt. Dann kommen auch Tränen. Jemand fasst sie an den Schultern, jemand hebt sie hoch und legt sie auf ein hartes Bett.
    »NEIN!« schreit sie. So laut, dass die Wände einstürzen. Steine fallen auf ihren Kopf, verschütten sie. Der Arzt reibt mit einem kühlen Wattebausch über ihre Armbeuge und sticht eine Nadel in ihre Vene, drückt gelbe Flüssigkeit in sie hinein.
    Später, alles ist durchsichtig, sieht sie Tropfen aus einem Schlauch in eine Kanüle rinnen. Die Kanüle steckt in ihrem Handrücken. Die Hand liegt in Mamas Hand. Mama sieht furchtbar aus. Wie ein Huhn in einer Hühnerfabrik. Kaum noch Federn. Alles zerrupft. Auch die Lippen. Papa steht hinter ihr, hat geweint. Oder weint immer noch. Das kann sie nicht genau erkennen. Es ist Gelee auf ihrem Blick, dann flattert etwas Weißes vorbei, eine Möwe, die zu tief fliegt und sie mit den Flügeln streift. Wenn sie die Augen schließt, ist sie wieder in Jonas’ Zimmer. Sie möchte die Augen nie mehr aufmachen. Andauernd wird sie gestört. Jemand klopft bei ihr an.
    »Hallo!«
    Es ist noch eine Frau im Raum. Sie berührt Julia am Arm. Julia zieht den Arm weg.
    »Julia, hören Sie mich? Ich bin Susanne Brausen. Ich bin die Psychologin. Ich helfe Ihnen, wieder auf die Beine zu kommen.«
    Julia zieht die Beine näher an den Bauch.
    »Sie sind traumatisiert. Sie haben einen Schock. Das ist ganz normal. Ruhen Sie sich aus und dann reden wir miteinander.«
    Julia hört, wie die Frau mit ihren Eltern spricht, ein Summen und Brummen mit einzelnen Wortbrocken, die ihr vor die Füße donnern: REALITÄT BEGREIFEN – NORMALEN TRAUERPROZESS EINLEITEN …
    Papas Stimme – so weit weg. Hat sie Fieber? Gleich nimmt er sie auf den Arm und hüpft mit ihr durchs Wohnzimmer, Fieber abschütteln – früher hat es immer geholfen.
    Papas Stimme kommt näher, redet irgendwo, da oben, weit über ihr, sagt, SEINE TOCHTER sei noch nicht so lange mit IHM zusammen gewesen. Er spricht den Namen nicht aus. Er kenne IHN kaum, habe ihn nur einmal kurz gesehen, so vor ein, zwei Wochen, als Julia ihn mal nach Hause mitgebracht habe. – Die Sonne scheint. Zwei kleine Mädchen schieben ihre Puppenwagen vorbei. Ein Dackel pinkelt an einen Zaun. – Unter dunklen Uferulmen wurdest durch Blut und Wunder ruhmlos ruhend du gefunden – Julia steht am Fenster, sieht Jonas, wie er vom Motorrad steigt,
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