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Januskopf

Januskopf

Titel: Januskopf
Autoren: F Schmöe
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komplizierte Probleme zwischen Null und Eins.
    »Morgen«, raunte Katinka und küsste ihn. »Wie geht’s?«
    Tom brummte etwas, das wie ›o.k.‹ klang. Sie ließ ihn in Ruhe. Mittlerweile kannte sie seine schweigsamen Phasen zu gut, um in ihn zu dringen.
    Auf dem Küchentisch lag ein Zettel.
    Ich bin in die Stadt gegangen und schaue mich ein wenig um. Carla.
    Umso besser, dachte Katinka. Sie schenkte sich Kaffee aus der Thermoskanne in einen Becher und trat ans Fenster. Ein langer, blanker Tag lag dort draußen, und obwohl es schon spät war, würde sie einiges mit ihm anfangen können. Nachdenklich blätterte sie in ihren Notizen, starrte auf Wörter wie Dostojewski-Syndrom, Schläfenlappenepilepsie und Hypergraphie. Charlotte Isenstein hatte ihren Mann als Patienten geschildert. Es wurde Zeit, dass sie den Menschen kennenlernte.
     
    Ewald war zu Hause, als Katinka um halb elf ihr Rad am Schillerplatz abstellte und klingelte. Sie hatte nichts anderes erwartet. Sein Leben bestand nur aus seinen Gedanken, Erinnerungen und diesem Haus.
    »Frau Palfy, guten Morgen aber auch«, begrüßte er sie und führte sie hinein. »Kommen Sie mit nach oben. Meine Frau ist nicht da.« Er grinste wie ein Jugendlicher, der sich über eine sturmfreie Bude freute.
    Katinka folgte ihm eine steile Treppe hinauf bis unters Dach. In einem Zimmerchen mit steiler Dachschräge wies er auf zwei Gartenstühle:
    »Setzen Sie sich. Ich hole uns etwas zu trinken.«
    Gebeugt von der Bedeutung seiner Worte ging er wieder davon. Katinka sah sich um. Bücher. Unmengen von Büchern. Sie war beruflich schon oft in Häusern gewesen, in denen Bücherwürmer lebten. Aber dies hier übertraf alles. Sämtliche Regale, geschickt zwischen den Schrägen untergebracht, quollen über vor Büchern. Jemand hatte die Bände mit aller Kraft hineingequetscht, die Seitenwände der Regale sahen aus, als wollten sie jede Sekunde nachgeben. An jeder freien Stelle im Raum lagen Bücher. Katinka hob einen Stapel von einem Stuhl und legte ihn auf dem Boden neben anderen Stapeln ab. Ein Tisch war vollkommen unter der Bücherlast verschwunden. Dicke Bände, zerlesene Taschenbücher, Atlanten, Lexika, Broschüren und selbstgeheftete Manuskripte türmten sich, wo immer ein paar Quadratzentimeter Platz blieben. Katinka nahm eines der handgeschriebenen Werke und blätterte es durch. Ewalds verschnörkelte Handschrift hatte dem Papier alles Weiß abgerungen. Er schrieb nicht nur extrem engzeilig, sondern füllte zudem den schmalen Rand und schrieb anschließend noch einmal quer über die Seite und über alle anderen Buchstaben hinweg. Mühsam entzifferte Katinka ein paar Wörter. Sie fand den Text unzusammenhängend, wirr und schlecht lesbar, nicht nur wegen der stilisierten Schrift und den vollgestopften Seiten. Da gab es wenig Inhalt, nichts, was wirklich eine Erzählung gewesen wäre. Fetzen von Eindrücken gruppierten sich zu einem chaotischen Sammelsurium an Wörtern und Sätzen. Manchmal schrieb Ewald nur Silben. Eine halbe Seite ›ba‹, sonst nichts. Mindestens hundert solcher Blätter hatte Ewald zusammengetackert, und alle lieferten sie dasselbe Bild. Seine Produktion musste enorm sein. Katinka legte das Heft weg und nahm ein anderes. Das gleiche Chaos. Der Eindruck einer schier unerschöpflichen Schaffenskraft ohne Inhalt.
    »Gefällt es Ihnen?« Ewald stand in der Tür. In der Hand hielt er ein Holzkistchen.
    »Wie viel schreiben Sie denn so am Tag?«
    Ewald lächelte stolz, während er das Kistchen auf einer zerfledderten Ausgabe von Heines ›Wintermärchen‹ abstellte und ihm eine Flasche entnahm. Theatralisch hielt er sie gegen das Licht. Die Flüssigkeit leuchtete golden wie Bernstein.
    »Was ist das?«, fragte Katinka neugierig.
    »Ich nenne es Teufelselixier.« Er betrachtete die Flasche liebevoll, suchte zwei Gläser aus dem Durcheinander auf dem Tisch, wischte sie mit einem Zipfel seines T-Shirts aus und schenkte ein.
    »Genießen Sie den Trunk, Frau Palfy«, flüsterte er. »Eine höchst mystische Sache.«
    Zweifelnd nahm Katinka das Glas entgegen. Sie nippte und schmeckte einen süßen, schweren Dessertwein.
    »Das ist gut«, sagte sie überrascht.
    Ewald lächelte hocherfreut.
    »Ja. Sie haben recht. Sie sind es wert, Frau Palfy.« Er fuhr sich durch sein schütteres Haar. »Nicht jeder versteht.«
    »Nein«, sagte Katinka und dachte an Carla und Tom. »Nicht jeder, das kann man wirklich sagen.« Sie nahm noch einen Schluck. Schwer und brennend rann der
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