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Jan Fabel 06 - Tiefenangst

Titel: Jan Fabel 06 - Tiefenangst
Autoren: Craig Russell
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die sie entdeckt hatte.
    Meliha war in der Hamburger Speicherstadt, einer Stadt innerhalb der Stadt. Die alten Lagerhäuser für zollfreie Waren ragten neben ihr und am dunklen Wasser des Kanals an ihrer Seite empor. Ein Licht, hoch oben an einem der Warenhäuser angebracht, ließ eine helle Pfütze entstehen, und der Hamburger Regen tanzte silbern plätschernd über die Pflastersteine. Sie versuchte, sich zu orientieren. Das Lagerhaus, das sie ansteuerte, lag in der Nähe. Wenn sie es erreichen konnte, würden die anderen sie vielleicht nicht finden. Zumindest würde sie Zeit haben, um über ihren nächsten Schachzug nachzudenken.
    Meliha kramte wieder in ihren Taschen. Das Handy war weg. Sie hatte es in dem Café, das sie am Mittag aufgesucht hatte, liegen lassen. Sie hatte es eingeschaltet auf den Tisch gelegt und mit ihrer Serviette zugedeckt. Als sie dann aus dem Café hinausging, hatte sie es auf dem Tisch liegen lassen.
    Noch eine Nachprüfung. Unlogisch, weil sie wusste, dass es im Café geblieben war, aber sie wollte sich noch einmal überzeugen. Sicherheitshalber.
    Möglicherweise hatte das Personal im Café das Handy gefunden und es beiseitegelegt, damit sie es später abholen konnte. Aber das Café befand sich in einem heruntergekommenen Teil von Wilhelmsburg, und Meliha hielt es für wahrscheinlicher, dass jemand das Handy eingesteckt hatte. Sie dachte an den fetten Mann am Nachbartisch, der beim Essen ekelhafte Geräusche gemacht hatte. Doch in erster Linie hatten nicht seine Essgewohnheiten ihre Aufmerksamkeit erregt, sondern die Tatsache, dass er ein Smartphone oder einen PDA besaß, auf den er, wenn er sich nicht gerade den Mund vollstopfte, ständig mit einem Griffel eintippte.
    Vielleicht hatte er ihr Handy an sich genommen. Oder vielleicht spazierte ein anderer Cafébesucher damit durch Hamburg.
    Genau das wollte sie. Meliha hatte ihre Taschen erneut durchsucht, um sich zu vergewissern, dass sie ihr Mobiltelefon nicht mehr bei sich hatte. Nun war es irgendwo dort draußen wie eine Flaschenpost, die man dem Meer anvertraut hatte. Vielleicht würde jemand die Bedeutung des Klingeltons erfassen und die Botschaft des Handys entschlüsseln. Zumindest würde es ihre Verfolger auf eine falsche Fährte locken.
    Meliha zog ihren Stadtplan aus der Tasche. Ein Büchlein, auf Papier gedruckt, kein Satnav- oder GPS-Gerät. Sie stellte ihren Standort fest, indem sie ihren Weg vom Eingang in die Speicherstadt über die Brücke, am Kibbelsteg und dann am Sandtorkai entlang nachvollzog. Das Lagerhaus war in der Nähe. Wenn sie sich nicht geirrt hatte, brauchte sie nur um die Ecke zu biegen und einen weiteren Block hinter sich zu bringen.
    Die Lagerhäuser in der Speicherstadt waren riesige Handelskathedralen aus roten Ziegeln. Man hatte sie im neunzehnten Jahrhundert gebaut. Doch nun änderte sich alles. Die ursprüngliche Speicherstadt war durch eine für das einundzwanzigste Jahrhundert sehr typische Version ihrer selbst erweitert worden: Der mächtige Kaispeicher A, das westlichste Lagerhaus der Speicherstadt, das einst gewaltige Tee- und Tabakvorräte verwahrt hatte, wurde zu einem enormen Segelschiff ausgebaut, das den Horizont beherrschte. Dieses Bauprojekt zog sich über Jahre hin und diente dazu, das Lagerhaus in einen grandiosen Konzertsaal mit angegliederten Hotels und Apartments zu verwandeln. Wie die Speicherstadt im neunzehnten und die Köhlbrandbrücke im zwanzigsten Jahrhundert sollte die Elbphilharmonie das Wahrzeichen werden, das Hamburg im einundzwanzigsten Jahrhundert und darüber hinaus charakterisierte – so einzigartig wie das Opernhaus von Sydney und zugleich eine Erinnerung an die maritime Vergangenheit der Stadt.
    Selbst dieser Teil der ursprünglichen Speicherstadt wandelte sich. Werbeagenturen und trendige Bar-Restaurants schoben sich heran – hauptsächlich, weil die Eigentümer in der Nähe der eleganten neuen HafenCity sein wollten, die sich bis zu den alten Lagerhäusern erstreckte.
    Aber die Gebäudereihe, die Meliha nun erreichte, hatte sich kaum verändert. Wie seit zwei Jahrhunderten war die gepflasterte Kanalgasse mit gigantischen Speichern gesäumt, die Teppiche und Textilien aus der Türkei und dem Iran sowie aus Aserbaidschan, Kasachstan und Pakistan enthielten.
    Sie trat aus dem Lichtkegel der Lampe des Lagerhauses und blickte das Kopfsteinpflaster der Kanalgasse hinauf und hinunter. Niemand. Kein Zeichen von ihnen. Aber sie wusste, dass das nichts zu bedeuten hatte. Es
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