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Jan Fabel 06 - Tiefenangst

Titel: Jan Fabel 06 - Tiefenangst
Autoren: Craig Russell
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den Bruch zu untersuchen, sondern um sich zu überzeugen, dass der Evak-Anzug nicht eingerissen war. Er konnte keinen Riss entdecken.
    Korn schlug mit seiner unverletzten Hand gegen den Klemmbügel und löste den Sicherheitsgurt. Er achtete nicht auf die bohrenden Schmerzen in seinem Arm, sondern schob sich durch die einzige Luke am Heck der Pharos One hinter seinem Stuhl. Da das Tauchboot rasch sank, musste er es schnell verlassen. Wenn ein Ärmel oder ein Gurt hängen blieb oder wenn er sich am Roboterarm verhakte, konnte er mit der Tauchkapsel zurück in die Tiefe gerissen werden. Ohnehin hatte er wahrscheinlich zehn, wenn nicht zwanzig Meter verloren. Plötzlich war er draußen im offenen Wasser und stieß sich von dem Gefährt ab. Der Überlebensanzug, von der eingefangenen Luft aufgebläht, isolierte ihn gegen die Kälte und widerstand dem schlimmsten Druck, doch sein Auftrieb drückte Korn nach oben ans Heck des sinkenden Tauchboots.
    Er stemmte die Beine an den hellgelben Rumpf und stieß sich mit den Füßen ab. Er war frei. Frei und ungehindert.
    Er sah, wie die Pharos One unter ihm verschwand. Ohne einen Laut. Sie wurde im dunklen Wasser kleiner und dann allmählich unsichtbar. Er schaute auf den Tiefenmesser an seinem Handgelenk. Hundertsechzig und steigend.
    Es war gefährlich, aber hier konnte er eindeutig überleben. Er würde es schaffen.
    Korn trieb mit dekompressionssicherer Geschwindigkeit weitere siebenundneunzig Meter in die Höhe. Über sich konnte er den abgeschwächten Glanz des Tages, vage und fern, erkennen.
    Die Oberfläche.
    In diesem Moment platzte sein Evak-Anzug, der sich ohne Korns Wissen an einer Niete des Kapselrumpfes verfangen hatte und nach seiner Flucht aus der Pharos One überdehnt worden war. Die Explosion setzte eine Flut von Luftblasen frei.

2. Zwei Wochen vor dem Sturm
     
    Meliha glitt so dicht an der Straßenmauer entlang, als wären die roten Ziegel magnetisiert. Sie waren hinter ihr her und würden sie finden. Ihre Verfolger fanden jeden. Und wenn sie Meliha gefunden hatten, würden sie sie wahrscheinlich töten. Vielleicht nicht sofort. Vielleicht nicht einmal so, wie sich die meisten einen Mord vorstellten. Sie konnten den Geist eines Menschen töten, seine Persönlichkeit vernichten und den Körper, der sich weiter bewegte und atmete, am Leben lassen. Doch als Person, als Individuum würde sie so gut wie tot sein.
    Es war kalt. So kalt. Und feucht. Und dunkel. Und die Füße schmerzten ihr. Sie hatte eine sehr große Strecke zurückgelegt. Aber vor allem hatte Meliha Angst vor denen, die sie verfolgten, weil das keine Menschen mehr zu sein schienen. Irgendwie hatten ihre Verfolger das erreicht, was sie sich immer gewünscht und für sich beansprucht hatten. Sie waren nichtmenschlich geworden. Meliha erschienen sie nicht mehr als Einzelne, sondern als Kollektivwesen. Als Einheit.
    Ein Gesamtwesen.
    Meliha versuchte, ihre Furcht zu verdrängen. Furcht war eine Emotion, der sie nie viel Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Sie war ein kluges, mutiges, wissbegieriges Kind gewesen. Ein kühnes kleines Mädchen, das der Welt kämpferisch gegenübergetreten war. Furchtlos. »Benim küçük cesur kaplanım …« – so hatte ihr Vater sie immer genannt: »Meine mutige kleine Tigerin.« Sie dachte zurück an jene Zeiten, an die Stunden, in denen sie mit ihm zusammengesessen, mit ihm geredet und verwegene Fragen nach der Welt gestellt hatte. Auf jede Frage wusste er eine Antwort. Nicht immer die richtige Antwort, wie er betonte, doch eine Antwort.
    Einmal hatte er ihr einen Briefbeschwerer aus Kristall gezeigt, den er auf seinem Schreibtisch aufbewahrte. Ein Souvenir, das an seine vielen Jahre und zahllosen Reisen als Geologe erinnerte. Er erzählte ihr, dass überall auf der Welt schöne Dinge wie Kristalle und Juwelen verstreut seien und nur darauf warteten, gefunden zu werden; manchmal seien sie tief in Felsen verborgen, manchmal würden sie dicht unter der Oberfläche liegen. Hin und wieder könne man sie zufällig entdecken, und bisweilen müsse man schwer arbeiten – sorgfältig Ausschau halten und tief graben –, um zu ihnen vorzudringen.
    Mit Antworten, hatte er erklärt, sei es genauso. Sie seien über die ganze Welt verteilt und am kostbarsten, wenn man sie selbst gefunden habe.
    Das war ihr Leitprinzip geworden. Sie hatte nach Antworten, nach der Wahrheit, gesucht. Und nun war sie hier, in einer fremden Stadt im kalten Norden, und wurde wegen der Antworten gejagt,
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