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Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Autoren: Uwe Johnson
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gehen. Sie suchte die Schaufenster ab in den Ladenstraßen, zufrieden mit der Entbehrlichkeit der Waren. An den Fahrkartenschaltern noch einmal an die Fluchtmöglichkeiten denken, das war sie. Doch auf der Lexington Avenue, sie ruhte sich aus in der Genossenschaft der vielfältigen Passanten, an den kleinstädtischen Ziegelbauten inmitten der Hochhäuser, dem immer wieder gesehenen Pizzabäcker, der ihr den umfänglichen Fladen entgegenhielt wie einen Gruß. Das niedrige Versteck für Männer, der Holztisch mit dem Frühstücksbier dicht am Fenster, sie hat es abermals gesehen, sie wollte es abermals nicht noch verstehen. Sie suchte zwischen den vielfenstrigen Fassaden nach dem Himmel über der Stadt, und richtig schwankten die Simse im Wolkenzug. Wenige Schritte noch, und der Spaziergang durch die täglich unverhoffte Stadt war vorüber. Die durch das marmorne Bankfoyer gespült wurde, aus dem Pulk herausgesogen in den dünneren und in die hintere Fahrstuhlgasse, das war nicht sie und war Mrs. Cresspahl, Angestellte des Hauses seit vier Jahren, Fremdsprachensekretärin ehemals, vierter und elfter Stock, jetzt versetzt in den sechzehnten Stock, gewiß entbehrlich, vorläufig und befristet eingebaut in den Betrieb des Unternehmens. – Wie geht es Ihnen! wird sie vielmals gefragt auf der Reise nach oben in der abgeschlossenen Kabine, und sie wird antworten: Wie geht es Ihnen! mit lächelnd verzogenen fast dünnen Lippen, die Augenwinkel unbewegt. Das ist eine andere.
    Das ist unsere Deutsche, das ist unsere Dänin. Sie ist nicht verheiratet, sie ist zu haben; sie ist verheiratet, sie ist verwitwet. Verlobt; wurde bei Wes an der Dritten Avenue gesehen mit einem Typ aus Kansas. Nein, Nebraska. Sie hat ein Kind in Pflege, nein zwei, es ist im Gegenteil ihr eigenes. Dschi-sain. Sie ist witzig; sie könnte sagen: Sie würden mein Dorf nicht finden auf der Landkarte, und ich muß es erst noch hinauftun, jedoch sagt sie: Geboren bin ich in Jerichow, das ist in Mecklenburg. Je-ri-chow. Sieht größer aus als einsvierundsechzig. Sie hat etwas mit dem Sohn des Vizepräsidenten; kam nach drei Jahren in den Turm der dickbepackten Kater. Darf im Restaurant der Chefs essen, fährt mittags doch zu Sam in den Keller; das macht sie falsch. Richtig, und geht zurück in ihre alten Abteilungen, und reißt nicht Brücken ab. Mit wem sie befreundet ist, dem hilft sie Kreditbriefe checken; es muß an ihrer kommunistischen Vergangenheit liegen. Ein Spaß des Vizepräsidenten; de Rosny ist so. Sonderauftrag. Memos kriegt man nicht von ihr; ihre Nummer steht nicht im Hausbuch. Gestern hat sie einen Erben aus Frankreich zum Essen geführt; sie ist nichts als de Rosnys linke Hand. Sie hat ein Außenbüro, mit Fenstern nach draußen; einen Safe hat die Bank ihr hingeschleppt. Miss Cresspahl. Nein, Mrs. Also doch zu haben. Personalbüro sagt nichts. Wer ist das? Eine vom sechzehnten Stock; wo Männer hingehören. Wird nicht mehr lange dauern, und sie sitzt in der Zweigstelle Milwaukee. Zehntausend Dollar im Jahr. Elftausend, eher. Cresspahl, der Name klingt jüdisch. Keltisch. Um ein Ende zu machen: Keiner kennt sie. Darauf könnte es den dickbepackten Katzen im Sechzehnten ankommen. Fazit: Unbekannt. Niemand, getarnt. Nicht kenntlich.
    Die Sonne, die durch die ungeschützten Fenster schlägt, holt sie noch einmal zurück. In dem weiträumigen Büro aus Technik und Wohnmöbeln sitzt heiße, halbhohe, östliche Sonne, die den Dunst über den niedrigen Siedlungen von Long Island City anheizt bis zur Farbe eines Meeres vor siebzehn Jahren. Da war sie einmal, hielt einen Sextanten gegen die Sonne. Das war sie einmal.
    Die Eingangsmappe für Cresspahl ist nicht dicker als an anderen Tagen, aber heute liegt zum ersten Mal ein Stück Zeitung darin. Es ist die Seite 12 aus der New York Times, ein Artikel ist in freigebigen Schwüngen umrundet, und in den Anzeigenraum daneben hat der Arbeitgeber sein DRINGEND stempeln lassen. Er hat sich die Mühe genommen, den Namen de Rosny als Paraphe anzudeuten, und wiederum scheint sie dem Krönchen eines Herzogs ähnlicher geworden.
    »
Memo
    From: Cp
    To: De Rosny, Vice President
    Re: N. Y. T., 23. April 1968; Č. S. S. R.
    Wegen der Behauptung, die Subventionspolitik in der Wirtschaft der Č. S. S. R. folge einem ›beliebig angelegten Plan‹, verweise ich auf meine Analyse des Fünfjahresplans 1966-1970, Registratur-Nummer deR 193-A-22.
    Die für das Wirtschaftsjahr 1967/68 angegebene Subvention von 30 Milliarden
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