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Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Autoren: Uwe Johnson
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ins Bruch, oder in die Ostsee –? Diese Aufzählung hatte die Rote Armee nicht abgewartet, und war abmarschiert mit einem Kopfschütteln, das für Bergie tadelnd aussah, sie konnte sich nicht helfen. Der blieb in der ersten Woche der einzige Soldat, der ohne Begleitung in Jerichow gesehen wurde. Der Kommandant hatte sich samt Besatzung einnageln lassen in der Ziegeleivilla und verständigte sich mit den Deutschen über Befehle, die er durch Cresspahl am Rathaus anschlagen ließ. Auf dem Fliegerhorst Jerichow Nord, dem unglückseligen Zeichen für die Teilnahme der Stadt am Krieg der Anderen, war immer noch kein sowjetisches Flugzeug gelandet, und so brauchbar das mit Stacheldraht eingezäunte Gelände gewesen wäre als ein Straflager, die Neuen benutzten es nicht einmal dazu.
    Wie also war das Wetter in Jerichow in der ersten Juliwoche 1945?
    All de Gerüchte, is woll doll œwerdreewn (B. Quade).
    Und wenn sie nicht übertrieben sind, so trauen sich die Russen nicht dazu bei Leuten, die Erfahrung mit britischer Besatzung haben (Dr. Kliefoth).
    Ilse Grossjohann ist aber doch vergewaltigt worden (Frieda Klütz).
    Sie mischen sich nicht in die Stadtverwaltung, sie benutzen den Flugplatz nicht – das dauert nicht (Ehepaar Maaß).
    Die Briten kommen also wohl zurück, Papenbrock (Creutz sen.).
    Was Cresspahl macht, daß er sich nicht geniert (Käthe Klupsch).
    Mag sein, wir kommen zurück zu Schweden. Is doch bloß zweihundert Jahre her (Frau Pastor Brüshaver).
    Papenbrock is eben Elite. Geschäftlich, mein ich (Else Pienagel).
    Die haben ja Angst vor uns. Ausgehverbot in der Nacht! Angst haben die! (Frieda Klütz).
    Am Ende fahren sie doch nachts über Land (Frieda Klütz).
    Im Krieg heißen solche Sachen Latrinenparolen (Alfred Bienmüller; Peter Wulff).
    Töw du man, du (Gesine Cresspahl).
    23. April, 1968 Dienstag
    Eben noch war sie für sich. Der abendliche Himmel von gestern, mit breitem Pinsel zugewischt, war nachgeschlichen in die letzten Bilder vor dem Aufwachen; der Traum blieb im aufklarenden Bewußtsein hängen wie ein Schutz. Als sei sie nach langer Zeit zum ersten Mal wieder aufgestanden. War niemand; ein Feld aus Erinnerung, die fremde Gräser wachsen ließ, Gewitterhimmel über der Baltischen See, den Geruch von Gras nach dem Regen. Wenige Blicke auf den Hudson noch, und im Gegenlicht würde das Gefühl der Zeit rascher laufen, darin sie, Gesine, Mrs. Cresspahl, Angestellte, eine vierstellige Zifferngruppe unterm Telefonamt 753, nicht hier, Stadtmitte. Noch nicht.
    Es gab Aufschübe. War noch eine Weile ich Gesine, ich Marie, wir das Kind und ich und die Stimmen aus dem Traum. Allmählich zerfiel die filzige Empfindung des Schlafens zu trockenem Pulver. Zwar benommen, konnte sie Vergnügen zeigen. Marie hatte sich das Haar so hoch und hart in einen Strang geschnürt, er stand eine Weile steil. Die Rollen trennten uns. Wie eine Elfjährige der Älteren Tee einschenkt. Wie Gesine sich zusammensucht zu Mrs. Cresspahl, gespiegelt in dem prüfenden Blick des Kindes: meine Mutter, fünfunddreißig Jahre alt, das eine graue Haar inmitten der dunklen findet sie nicht. Verkleidet für ein Büro, ausgerüstet für einen Tag außerhalb, unkenntlicher geworden. Wie ein schulmürrisches Kind vorfreudig von Schreibpflichten redet, damit die Andere leichter unter die Leute gehen kann als Erwerbsperson. Noch einmal Maries besorgtes, schlafweiches, ausländisches Gesicht im Türspalt. Allein.
    Durfte noch eine Weile dahintreiben, auf festen Routen zwar, von Feld zu Feld pünktlich in der Zeit voran; jedoch für sich. Das war sie, die versprach dem Zeitungenmann einen Guten Morgen, und daß sie ihn nie belästigen wird mit mehr als diesem; Verwandtschaft aus Bekanntschaft, der er ist. Fast war sie enttäuscht, als sie unter der Straße sich wiederfand unter Fremden auf der Expreßseite des Bahnsteigs, und erleichtert, als das Liebespaar von gestern doch noch die abgewetzten Stufen hinauflief, beide ungeübt, einander nicht sicher, von einander getrennt im davonschießenden Zug. Zwängte doch die New York Times unterm Arm hervor: Gutes Wetter über Nord-Viet Nam; 151 Bomber-Einsätze. Sie war es, die ließ sich im Gedränge unter dem Times Square einem Bahnpolizisten so dicht an die Schuhspitzen schieben, daß er um ein Weniges zur Seite trat, fast grüßend. Sie ging voran durch die schwankenden Türlöcher im Pendlerzug zum Bahnhof Grand Central, nicht wegen der drei Sekunden Gewinn, sondern um auf etwas Fahrendem zu
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