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Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Uwe Johnson
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vorbeiblickt, das Gesicht in joviale Lächelfalten gehängt: rechts. Weil Weihnachten ist?
    Als Zitat des Tages bringt sie seinen Ausspruch: »Wir sind jederzeit bereit, das Wort und das Votum mit dem Messer und der Granate zu vertauschen, um Viet Nam einen ehrenhaften Frieden zu bringen.«
    Weil Weihnachten ist?
    Zu Weihnachten 1936 war meine Mutter noch nicht tot. Noch Weihnachten 1937 war Lisbeth Cresspahl am Leben.
    Uns’ Lisbeth. »Fröln Papenbrock«, das hatten die Jerichower ihr ins Gesicht gesagt wie später »Fru Cresspahl«, untereinander jedoch sprachen sie von »Lisbeth«, mochten die doch in Lübeck das anders halten mit dem Respekt für den Namen. Respekt för’t Hus, das war so eine rostocksche Geschichte, nichts für Jerichow. Da war uns’ Lisbeth bekannt, seit der alte Papenbrock (»Albert«) 1922 Sommerferien mit Familie in Jerichow verbracht hatte. Nicht in den herrschaftlichen Hotels am Strand von Rande, im Lübecker Hof in Jerichow, selten mit Badeausflügen, öfter mit ferienähnlichen Kutschfahrten auf die Rittergüter des Winkels, eher feldmesserhaften Gängen durch die Stadt und geradezu beiläufigem Vorsprechen in dem gediegenen Bau am Markt, den die von Lassewitz als Stadthaus unterhielten, nachdem sie Ländereien nicht eben übrig hatten. Papenbrock galt da für Einen, der um Jerichow Ersatz suchte für die Gutspacht, die er in Vietsen an der Müritz aufgegeben hatte, und auch sein Aufenthalt mit Frau und Sohn und zwei Töchtern würde jene zweite Zeile nicht in die mecklenburgischen Reiseführer bringen, deren Lehrer Stoffregen die Petrikirche und Pächter Lindemann seine Ausspannung für wert hielt. Deswegen konnte man die sonderbaren Gäste doch ansehen, mochte so ein Papenbrock sich auch geben als zu gut für den Blick der Katze. Offizier gewesen. Na, Hauptmann. Ståtsch. Manchmal fiel ihm der Bauch aus der in Schwerin geschneiderten Frontkurve; dafür waren es ja Ferien. Das war bekannt, wie der die Augen auf Engsicht stellte und im Mundwinkel die Zähne versetzte, das taten jetzt viele, mochte der auch mehr Mark zum Dollar hinlaufen sehen. Albert. Seine Louise saß stattlich wie er in der Kutsche, aber es war etwas Ängstliches, Jammerndes in dem Ton, mit dem sie die beiden Mädchen ihr gegenüber unter einer Fuchtel zu halten versuchte, die ihr nicht verliehen war. Der Sœhner, Horst, war meist mucksch, weil er auf dem Bock neben dem Kutscher zu sitzen hatte, so widerwillig artig; das wurde wohl kein Papenbrock wie der alte. Hilde, die älteste von den Mädchen, war ein wenig von oben herab, wenn sie bei Tisch etwas nachforderte oder Einheimischen eine Antwort nicht verweigern durfte; die hielt den Namen Papenbrock offensichtlich für großartig. Lisbeth ging und saß zwischen denen gelassen herum, maulte nicht über die kräftigen Familienmärsche, nickte jerichower Kindern zu und war überdies ihres Vaters liebstes Kind und brauchte ihm doch nicht um den Bart zu gehen. Vielleicht, weil sie von allen dreien am besten reiten konnte, ausdauernd und ohne Angst über die Koppelzäune. Zu der Zeit war sie ja noch nicht einmal großjährig gewesen, sechzehn Jahre. Wardt wi woll Lisbeth seggn, und damals auch noch ins Gesicht.
    Das war nun alles auf Vorrat gemerkt, und doch kam die Familie Papenbrock im Sommer 1923 nicht wieder. Es ging jemand weg aus Jerichow. Im Frühjahr packten die Lassewitzens zusammen, wie gewöhnlich zur Zeit ihrer Reise nach Kann Es oder wie immer die Franzosen das aussprechen, und wenn diesmal sogar die ansehnlicheren Möbel in Schwerin auf Lager genommen wurden, so wollten sie am Ende das Haus gerichtet haben. Das Haus hatte Pflege nötig. Der Seewind hatte von den Stuckgirlanden über der Doppelreihe Frontfenster reichlich Blumenwerk abgefressen, im Dachboden sollten die Katzen mit den Mäusen nicht mehr zurechtkommen, und von den Parketts hieß es, das sei ein Gehen wie auf der gefrorenen Ostsee. Es wurden Instandsetzungen ausgeschrieben, Umbauten sogar, wenn auch nicht von der Familie, sondern von Dr. Avenarius Kollmorgen, der vordem deren Anwalt nicht gewesen war. Es täuschte, daß Dr. Kollmorgen (»Avenarius«) ein wenig klein gewachsen war, fragen ließ der sich nicht, der schob die Lippen vor und schwenkte Rätselblicke hin und her und verschenkte solche Sprüche wie den von der Zeit, die eher komme als der Rat. Der machte wohl die Inflation mit. Deswegen ließ er sich doch bitten und zahlte voraus nicht mit der galoppsüchtigen Mark sondern mit
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