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Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Uwe Johnson
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schmerzhaft aussah, und er brachte es nicht fertig, sie mit weiter ausgewinkeltem Ellenbogen abzustützen. Mit so verrutschten Pupillen konnte sie nichts mehr sehen, geschweige denn ihn.
    Der Berling, der an diesem Morgen Cresspahl verabschiedete, war nicht mehr der von 1933, der die Leute auf die Schulter schlug, »zur Vorbeugung«, der mit den ausgelassenen Redereien, der die Kranken angesteckt hatte mit Gesundheit, Klagenden fast beleidigt über den Mund gefahren war. Der von heute sah so sorgfältig hin wie früher, aber nicht so gewalttätig aufmunternd, hörte geduldiger zu, nickte sogar, hielt sein dickfleischiges Gesicht still, blickte trübe bei Gelegenheiten. Der trank nicht mehr, wo ihn einer abhören konnte; der saß die Nächte zu Hause. In den Backen waren ihm so viele Äderchen gesprungen, »blagen Düvel« hieß er manchmal. Ein schwerer Mann, zwei Meter, zwei Zentner, kräftig wie ein Fleischer, der in den Jahren traurig geworden war, die seine besten hatten sein sollen. Und von Berling erfuhr Jerichow nicht, daß die junge Frau Cresspahl eben ein Kind verlor; von ihm war nur zu erfahren, was er Cresspahl in einem letzten Nicken vor dem Anfahren vorschlug und verordnete: Se hett wat ætn; was gegessen hat sie. Was ein Mensch nicht verträgt.
    Cresspahl hat es lange für einen Fall von Unglück gehalten; ihm war es obendrein recht, daß das Unglück nicht in eine ungünstigere Zeit gekommen war. Es war die stille Zeit, die zwischen den Festen. Die Arbeiter waren nach Hause abgefahren; er hatte niemand zu versorgen als das Kind. Und Lisbeths letzte Kraft für den Anruf bei Berling konnte doch die letztübrige gewesen sein, nicht die absichtlich aufgehobene. Wenn er nicht wollte, mußte er nicht einmal den Papenbrocks gleich etwas sagen, nicht den Paepckes gegenüber. Die schliefen noch, Jerichow schlief noch. Später verstand er nicht alles, was Berling ihm von Lisbeths fiebrigen Reden erklären wollte, da lief die Arbeit in der Werkstatt von neuem, da hielt Lisbeth längst wieder den Haushalt in Gang, müde, unnachgiebig und, richtig, bleich im Gesicht wie nach Vergiftung durch Unbekömmliches.
    Dr. Berling sagte:
    Meine Mutter hatte gehofft, mit dem zweiten Kind auch das eigene Leben zu verlieren, um zu entkommen aus der Schuld.
    Sie wußte, auf dieser Fahrt durch den Schnee und während der Operation, viele Arten von Schuld, und manche gehörten ihr gar nicht, und gehörten doch zu den ihren.
    Ihre Schuld war, daß sie 1931 meinem Vater nach England mitging; im heimlichen Wissen, daß sie mit ihm wohl leben wollte, jedoch nicht in der Fremde. Meines Vaters Schuld war freilich, daß er ihr getraut hatte. So viel Vertrauen könne ein Mensch nicht tragen.
    Sie hatte vor dieser Schuld fliehen wollen und ging zur Geburt des Kindes zurück nach Mecklenburg. Vor einer Schuld aber dürfe ein Christ nicht fliehen, und es war Cresspahls Schuld, daß er dies zugelassen habe.
    Ihre Schuld hatte dann viel Verwandtschaft bekommen. Sie war nicht nur zurückgegangen zu der vielfältigen Schuld ihres Vaters, der verarmten Leuten Darlehen gab und als Rückzahlung ihre Häuser forderte, so daß sie nun bei ihm angestellt waren. (Damit könnte sie Tischlermeister Zoll meinen, den Papenbrock »ausgekauft« hatte; wen aber noch?) Sie hatte dann bleiben wollen in einem Land, dessen neue Regierung die Kirche bedrängte, bei einer Familie, der man weiterhin Verdienst an der neuen Herrschaft nachsagen konnte und dem eigenen Bruder einen Totschlag an Voss in Rande. Cresspahls Schuld war wiederum, daß er solche Vergrößerung ihrer Schuld nicht aufgehalten hatte. Er hatte ihr mit der Übersiedlung nachgegeben; es soll aber der Mann entscheiden. Wie die Bibel sagt. Er hatte entschieden, zu Unrecht, wie sie wollte.
    Cresspahls Schuld war, daß ihm die ihre noch nicht genug war. Er wollte eine Teilhabe daran in die Welt setzen nicht nur für dies eine Kind Gesine, sondern für noch drei. Wie sie ihm versprochen hatte. Aber sagt nicht das Neue Testament, daß man einem schwachen Schuldner nachlassen soll? Cresspahls Schuld war nunmehr, daß er ihr das Versprechen nicht erließ; gewiß die ihre, daß sie ihr Bedürfnis danach nicht ausdrücken konnte. Aber er machte ihr die Schuld fühlbar, indem er die Abende verbrachte bei Schreibarbeit und Zeichnerei bei Richtenberger Kümmel, bis er das Versprechen vergessen konnte.
    Ihre Schuld war, daß sie nicht mit ihm lebte, wie sie vor der Kirche auf sich genommen hatte, mit der Hand auf
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