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Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Uwe Johnson
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der Bibel. Aber sagte die Bibel nicht auch: die Männer sollen »kreuzigen ihr Fleisch samt den Lüsten und Begierden«? Galater 5, 24. Cresspahls Schuld war, daß er ihr das nicht würde abnehmen wollen; und ihre blieb, daß sie an den Worten der Heiligen Schrift zweifelte.
    Um so viel Schuld nicht zu behalten, und nicht zu vermehren, hatte sie eine der größten begehen wollen: zwar ein ungeborenes Kind vor Schuld bewahren, aber das eigene Leben weggeben. Zwar lasse Gott mit sich nicht handeln. Eine Art Bezahlung hätte es dennoch dargestellt. Auch für die Schuld von Cresspahl.
    Die im Grunde die ihre blieb; denn sie hatte sich nicht retten lassen wollen. Sie war ihrem Mann nicht gehorsam gewesen. Wenn er noch Anfang 1935 von dem neuen Krieg der Deutschen hatte weggehen wollen; warum hatte sie es nicht als einen Befehl genommen.
    Aus Schwäche, demgemäß aus Schuld.
    Schuld sei nicht für die Ohren eines Arztes, auch wenn nach ihm kein Mensch mehr komme. Und sie wolle dafür entschuldigt sein. Denn wenn ihre neueste, die größte Schuld vor die Ohren der Kirche komme, müsse sie des letzten Segens verlustig gehen. So aber, an der verheimlichten Schuld gestorben, sei sie eines christlichen Begräbnisses sicher.
    Da bleibe nur die Schuld der Täuschung noch, aber nicht eine von Arglist. Eine von den kleinen, den verzeihlichen, wie sie ein Kind hat. Und nur so werde Cresspahl von seiner Schuld nicht erfahren und bis zu seinem Tode, mindestens, leben können ohne die Schuld.
    Und Dr. Berling sagte:
    Sie weiß da nu nichs mehr von. Was Ein’ im Fieber redet. Kein ein weiß von gar nichs.
    Und er sagte:
    Immer diese Rührseligkeit zu Weihnachten. Kerzen; Singerei! Is an viel schuld, alter Schwede. Legen Sie das Geld man da auf den Tisch.
    Er sagte:
    Sie wird wieder werden. Wenn Sie zwei Jahre warten, Cresspahl, alter Schwede. Nach zwei Jahren hält sie es nich aus ohne das zweite Kind.
    Und:
    Godet Niejår, Cresspahl!

26. Dezember, 1967 Dienstag
    Weihnachten ist vorbei, und die New York Times hält schon wieder 68 Seiten für nötig, uns Kaufmöglichkeiten sowie auch die Welt darzustellen: Die Luftwaffe bombardiert von neuem im Norden Viet Nams. Feuer auf einem norwegischen Frachter im Hafen. Der Freistaat Bayern versteht sich als Brückenkopf gegenüber Osteuropa. Peking schweigt sich aus über seine Atomexplosion. Bürgermeister Lindsay bereut Fehler, gelobt Besserung und verfügt in seinem Hausbüro übrigens über eine versteckte Fernsehkamera, mit der er sich auf sechs new yorker Kanäle bringen kann. Nun wissen wir es; wer weiß wozu.
    Einmal wird Marie über mich auch sagen: Meine Mutter war eine Leserin der New York Times; nicht als Indiskretion, als Kennzeichnung doch. So wird sie mich vergleichen mit Cresspahl in London, der aus dem Daily Herald die Labour Party hören wollte, mit Lisbeth Cresspahl, die nicht versehentlich den Manchester Guardian aus der Stadt mitbrachte, die in Mecklenburg ganz zufrieden war, daß es da nur noch den Lübecker General-Anzeiger zu abonnieren gab und nicht den Volksboten, sozialdemokratisch, verboten, ausgeräubert.
    Marie, es war nicht so. Als wir im April 1961 nach New York kamen, sie hatten für uns noch an Zeitungen die News, den Journal-American, das World-Telegram & Sun, die Post, die Herald Tribune, das Wall Street Journal, die Long Island Press, und die Times. Ich habe die Times gekauft wegen ihrer britischen Abstammung, und wußte noch nicht einmal, daß sie zu der Minorität gehörte, die gegen Richard Nixon John Kennedy als Präsidenten gewünscht hatte. In der Bank hatte man mir zu der Times geraten: wegen der Mietangebote an jedem Tag, nicht nur wochenends. Mit der New York Times haben wir unsere Wohnung gefunden in New York, fünf Fenster auf Flußfarben, auf den Riverside Park, auf unverstellten Himmel. Gewöhnung an die New York Times habe ich erst gemerkt, als sie an der Lexington Avenue ausgegangen war und ein höfliches Kind, noch nicht vier Jahre, mich mit einem Kopfwenden an der Siebenten hinwies auf was ich suchte: einen Stand mit Zeitungen, wenn auch ohne die Times; und die News mochte ich nicht kaufen. Du begriffst einmal mehr, daß Erwachsene wunderlich sind, und konntest doch von meiner Hand nicht lassen in einer Gegend, in der die Sprache, die Autofarben, die Hausblockhöhen dir fremd waren, von der Mutter einmal zu schweigen.
    Erklär was du willst, wenn du über die Dreißig bist: meine Mutter ist hereingefallen auf die konservative Aufmachung,
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