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Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Uwe Johnson
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indem sie sich einbildete, nicht hereingefallen zu sein auf zollhohe Meldung von Nichts, peinliche Fotos von Niemandem. Sag meinetwegen: meine Mutter wollte da das Amerikanisch von Besitz und Bildung lernen, lieber als wie die Arbeiter sprechen und Räuber und Gendarm. Es mag stimmen, aber wenn ich solche Sprache benötigte für Hochstapelei, dann gleicher Maßen für das Bestehen gegenüber Vorgesetzten, die von Hochschulen kamen. Hab deinen Spaß daran, daß ich von der Times New York lernte: nicht nur, wer gerade Senator war, sondern wie er seine Stimmen sich verschafft hatte; nicht nur den Namen des Bürgermeisters, sondern auch, wo seine Befugnisse aufhören; was eine Verfehlung ist, was ein Vergehen und was eine Übertretung des Gesetzes, und was der Buchstabe des Gesetzes dir erlaubt gegen die Polizei. Behaupte, daß ich schon mit achtundzwanzig Jahren einem Alter erst einmal Vorgaben ließ, und ich mag so gewesen sein: die Nummer 4230 bei der Ermordung Lincolns kommt mir achtenswert vor wegen Tradition, wie die von heute: Nummer 40,148 des Bandes CXVII ; aber sag mir nicht nach: ohne Ansehen der Tradition. Nicht: um für eine verlorene Autorität eine neu zu berufen. Denn dann müßt ich sie halten als einen Vater; ich halt sie für eine Tante.
    Da mag Bewunderung sein. Der nur in wenigen, oft unumgänglichen Stellen blinde Spiegel der täglichen Ereignisse. Die Vollständigkeit vieler Meldungen. Die Erstleistungen, die Erfolge: beim Erdbeben in San Francisco 1906, beim Untergang der Titanic 1912, die zehn Seiten von insgesamt nur 38 über den Abwurf der Atombombe auf Hiroshima schon am 7. August 1945; da mag ich dem Eigenlob der Times gehorsamer sein als nötig. Vielleicht rechne ich ihr Verdienste an, die nur mir welche sind: die Kandidatur von Barry Goldwater galt ihr als eine »Katastrophe«, ausgesprochen; drei oder vier Tage lang brachte sie die Ermordung John Kennedys in Schlagzeilen über alle ihre acht Spalten unter die Leute. Aber ich bin auch mit dir im Foyer des Times-Gebäudes gewesen und kenne das Motto, das über der Büste des Nachgründers Adolph Ochs angebracht ist, und wenn es auch ein Wort ist in unserem Haushalt, ein ehrenwert gebrauchtes ist es kaum.
     
    » TO GIVE THE NEWS IMPARTIALLY ,
    WITHOUT FEAR OR FAVOR,
    REGARDLESS OF ANY PARTY ,
    SECT OR INTEREST INVOLVED «
     
    Das sind die Fahnen, die die Stadt New York auf halbmast setzte, als dieser treueste Neffe der Times 1935 zu Grabe getragen wurde, das ist ihr Selbstverständnis als einer »ehrenvollen menschlichen Einrichtung«. Während der Arbeitszeit unterhält die Tante dennoch ein Unternehmen, das mit der Beschaffung von Nachrichten und deren Verbreitung mittels Verkauf befaßt ist; die Streiks von 1962 und 1965 hätten es mir spätestens nahegelegt. Ein Prozent von den Aktien der New York Times, und wir säßen gefangen im Social Register von New York, Marie!
    Tantenhaft fiel mir auf (sobald ich sie lesen konnte), daß sie nicht imstande war, Gutes zu tun, außer sie redete darüber. Wenn sie, niemals zu parteipolitischer Unterstützung bereit, einen Politiker unterstützte, so ausdrücklich, weil die Vorhaben seiner Partei von der Times aus korrekt waren, nicht etwa von Kennedy aus. Das Gewissen der wünschbaren U. S. A., sie hatte es in Verwahrung, und wie ließ sie sich von Kennedy kränken so kurz nach der Wahl zum Senator, und wie fürchterlich schlug sie zurück mit der Verdächtigung, er habe sein eigenes Buch nicht geschrieben! Wenn sie die Bewerbung eines Bürgers um eine Abgeordnetenkandidatur Schritt für Schritt beschreiben ließ, und nämlich durch einen Freund des Bewerbers, so war das eben nicht Schützenhilfe, sondern die Unterrichtung der Öffentlichkeit über politische Prozesse als Wissenschaft; so wie ihr ein Mord in den News schlicht als Leserhasche gilt, so sind ihr die eigenen Stück für Stück Soziologie. Tantenhaft überhaupt die unablässige Belehrsucht; es ist nicht zu zählen, wie oft und wieder sie den Fahrpreis der South Ferry mit erstaunlichen fünf Cent angibt, was den Einwohnern der Stadt als Einwohnern und den Fremden aus Reiseführern als Weltwunder vertraut ist. Schließlich merkte sogar ich die achtlosen Wiederholungen, mißtraute den altväterischen Wendungen, schlug in Gedanken genauere Ausdrücke vor, die noch lange nicht vulgär waren. (Hätte ich vom Amerikanisch der News nicht auch gelernt, ich wäre am Broadway kaum zurechtgekommen.) Es waren Erscheinungen des Alters, und doch
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