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Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Uwe Johnson
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Juden den so genannten Christen die weihnachtliche Betriebsamkeit vor, wofür die sich schadlos halten mit der Annahme, Chanukah sei womöglich noch empfindungsseliger.
    Womöglich können Sie noch vermerken, welchen Status Christi Geburt in der Geschäftswelt innehat. Zwar hängen in der Bank, in der ich arbeite, an der Wand zwischen den Fahrstühlen ungeheure aus Tannenzweigen gewundene Kränze, mit kostbaren roten Schleifen, diskret und eben nicht billig, woraus den Kunden wie den Gästen das Selbstverständnis des Unternehmens ersichtlich sein soll, nicht nur das finanzielle. Aber wenn morgen nicht ein Sonntag wäre, sondern ein gewöhnlicher, müßte ich zur Arbeit.
    Mehr habe ich nicht gesehen. Mehr ist mir nicht erzählt worden.
    Heute nachmittag sind wir auf der Fünften Avenue in eine Demonstration gegen die Kriegshandlungen in Viet Nam geraten, nachmittags nicht in Ihrem Verständnis, es war noch nicht eins, aber schon nach zwölf. Sätze von solcher Art sind wohl in allen Ihren Englischklassen zitiert worden als echte Kliefoths. Wußten Sie das? In die Demonstration teilten sich etwa dreihundert Demonstranten und gewiß nicht weniger Polizisten. Wir wollten zu Dunhill am Rockefeller Center, um Ihnen Ihren Morgentabak zu erstehen, und die Polizisten standen arg Wache an der Mall, der Promenade des Rockefeller Center, weil es doch privates Eigentum ist. Die Polizisten waren bemüht, sich gelassen zu geben, und wollten die Demonstranten mit bullhorns, wie heißen die deutsch, auf dem Bürgersteig halten, als läge ihnen nichts am Herzen als die Regelung des Verkehrs, und die Demonstranten hatten ihre Flüstertüten vergessen. Erst als mir einer dreimal ein Wort ins Ohr geblasen hatte, erfaßte ich es. LOVE wollte der, LIEBE . Sie nannten sich Santas Helfer, und waren nicht bürgerlich gekleidet, halb hatten sie sich in der Boutique und halb im Armeeladen eingedeckt. Obendrein trugen sie die Haare lang, und das staatsloyale Publikum, beladen mit den Paketen der letzten Stunde, stark vergrätzt durch die hohen Ausgaben und eben auch schon verschwitzt, dies Publikum brüllte Sachen von Badewanne und Hygiene. Dies war etwas, das Marie empörte. Sie hat es so gelernt, daß jedermann seine Meinung soll öffentlich vortragen dürfen; nun kamen Leute an, die wollten anderen Kleidung und Haartracht vorschreiben.
    Der Anführer der Demonstranten war ein junger Mann mit einer großen Wolke blonden Haares auf dem Kopf, der trug eine Fahne der U. S. A. und dazu ein Schild, auf dem in den gleichen Farben das Wort KILL geschrieben stand. Den sah ich zuletzt, als er mit seinen Freunden in das Warenhaus Saks einzubrechen versuchte, Santas freundliche Helfer. Und die Heilsarmee dudelte unerschrocken, und immer noch warteten Kerle in roten Kapuzenmänteln und Kunststoffbärten, sich mit Kindern fotografieren zu lassen. Dann wurden wir endgültig zur Madison Avenue hin abgedrängt. Die Beamten waren nicht offen wütend, nur gereizt von der langdauernden Anstrengung, sich unerregt zu zeigen; sie nannten mich sehr wohl noch Lady; jedoch tadelten sie mich, weil ich mit einem Kind durch ihre Veranstaltung mit Santas Helfern gewandert war, sie schickten mich ziemlich streng »nach Hause«. Nun war Marie zum zweiten Mal empört. Denn sie mag sich noch in manchen Momenten als Kind fühlen; dies war keiner von denen gewesen. In ihrer Wut vergaß sie sich und nannte den Polizisten, zwar leise: a pig. Ein Schwein. Das war mir nicht geläufig gewesen. Dann entschuldigte sie sich für die unbedachte Wortwahl.
    Verzeihen Sie, wenn ich Sie um eine Gefälligkeit bitte, nämlich auf dem Kirchhof nachzusehen, ob Creutzens meine drei Gräber abgedeckt haben. Es ist nicht, daß ich die Sitte der Grabpflege verteidigen will. Es ist nur, Erich Creutz mag wohl etwas tun wollen für mein Geld, aber Emmy Creutz hat schon versucht, ihn davon abzuhalten, und ich gönne ihr nicht die Befriedigung, daß sie zwar den alten Cresspahl nicht hat hereinlegen können, dafür seine Tochter um so mehr.
    Lieber Herr Kliefoth, ein Neues Jahr, Ihr zweiundachtzigstes, und ein otium cum dignitate wünscht Ihnen Ihre sehr ergebene G. C.

24. Dezember, 1967 Sonntag
    Gleich unter der Datumszeile auf der ersten Seite bringt die New York Times zwei Bilder, wie benachbart, wie verwandt: wie Präsident Johnson gestern amerikanischen Soldaten im Stützpunkt Camranh-Bucht in Süd-Viet Nam Orden anpinnt: links. Wie Präsident Johnson gestern an der Redegebärde des Papstes
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