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Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Uwe Johnson
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Wohnungen außer an der eigenen Adresse und halten die Angelegenheit Viet Nam für ausgeleiert, ein Gespräch darüber mittlerweile für taktlos, wenn nicht geradezu unschicklich. Mr. Carpenter III , Georgetown, Harvard, Oberst der Reserve bei einem Hubschrauberbataillon, Carpenter von Allen, Burns, Elman & Carpenter, er hat Marie erklärt, in einem demokratischen Staatswesen sei für einen Jeden seine Stelle zu verwalten, und die Sache des Krieges gehöre zur Stelle des Präsidenten. Als Marie das vorsichtig, zu Testzwecken, zu Hause vorbrachte, kam obendrein heraus, daß sie die Plakette GEHT RAUS AUS VIET NAM nur so lange angesteckt trug, wie die Mode in ihrer Klasse sich hielt. Sie ist so unaufrichtig, wie ich sie erzogen habe.
    Mit meinen Ausrüstungen kann sie gegen das Land nicht besser bestehen als ich. Es ist ein Land, in dem Präsident Johnson die vorweihnachtliche Sentimentalität mit einer Fernsehansprache für seine Politik hier wie draußen für sich ausnützen darf und von einer Kennedy-McCarthy-Bewegung reden, und die New York Times spricht nicht unzufrieden von einem »tödlichen Bindestrich«, der den Senator Kennedy in größere Nähe zu den Antikriegs-Vereinigungen bringe, als ihm wahrscheinlich lieb sei. Marie hat Johnsons würdevoll verschlagenen Auftritt gestern abend bei den Carpenters angesehen und kam zurück voll Empörung, daß der Präsident ihren Senator darstellte als einen ungebührlich ehrgeizigen Menschen, der nichts wolle als ihm seinen Job abjagen. Es fiel ihr nicht auf, daß Kennedy mit Friedensabsichten denunziert werden sollte. Sie lebt hier seit sechs Jahren. Sie möchte nirgends leben als hier. Sie möchte nicht leben in einem Land, dem sie mißtraut. Diesem vertraut sie.
    Ihre Höflichkeit jedoch ist fast nicht erschöpflich. Noch beim Tischdecken und Auftragen war sie am Überlegen, und noch vor dem ersten Bissen sagte sie: Du meinst, wenn eine Präsidentenlüge herauskommt, ist es für uns zu spät und für ihn spät genug?
    Sie kann so ein vernünftelndes Gehabe zeigen. Das Kinn auf die zusammengelegten Hände gestützt, den Kopf freundlich schräg, so sah sie mich an. Sie hatte mir bewiesen, daß sie ihrer Mutter aufs Wort zuhört. Sie hatte mir zu der einen Antwort noch eine andere zugegeben, und sie war über keine im mindesten erschrocken.

22. Dezember, 1967 Freitag
    Was haben wir für eine Zeitung in dieser Stadt! Die New York Times meldet von den Astronomen, daß die Sonne heute in der nördlichen Hemisphäre die kürzeste Zeit über dem Horizont sein wird und der Winter 17 Minuten nach acht Uhr morgens begann.
    Und sie meldet, daß im August 1964 im Golf von Tonkin tatsächlich vier Mitglieder der Besatzung der Turner Joy 300 Fuß von Backbord die Spur eines Torpedos aus Nord-Viet Nam im Wasser sichteten; daß aber die Regierung den Entwurf zur vollen Kriegsermächtigung längst vor August 1964 fertig hatte.
     
    Und Marie sagt in etwas schnippischen, fliegenden Tönen: So kann ich nicht leben, wie du es von mir verlangst! Ich soll nicht lügen, weil du nicht Lügen magst! Du wärst längst ohne Arbeit, und ich aus der Schule, wenn wir nicht lögen wie drei amerikanische Präsidenten hintereinander! Du hast deinen Krieg nicht aufgehalten, nun soll ich es für dich tun! Als du ein Kind warst, rund um dich haben sie ihren Krieg hochgezogen, und du hast nichts gemerkt!
    – Man hat mir nichts gesagt, Marie.
    – Und doch war es zu sehen! Apologies are in order, Mrs. Cresspahl.
    – Hör auf zu weinen, Marie.
    – Sag: Versógelicke; wie ich als Kind.
    – Versógelicke, Marie.
     
    Mein Krieg war gut versteckt. Sogar der Name der Stadt Jerichow war entlegen in Deutschland. Die Badegäste, die sie im Auto auf dem Weg zum Seebad Rande passierten, was sahen sie? Vierhundert Meter grober Pflastersteine, die die Wagen zu holprigen Knicksen brachten. Scheunen. Höfe. Die rote Ostfront der Ziegelei mit ihren zwei echten und fünfzehn vorgetäuschten Fenstern. Kühle Grabsteine im Schatten. Eine niedrig umbaute Straße, dörflich schmal, zweistöckige Häuser, vorn ältlich verputzt, seitlich Fachwerkbalken. Darüber ein Ungetüm von einer Kirche mit Bischofsmütze, bis zum Ansatz der Schildgiebel von Baumkronen umwölkt. Viele Läden mit Auslagen, die einst Wohnzimmerfenster gewesen waren. Karstadts bunkerähnlicher Kasten, ein Landkaufhaus. Oder sie kamen mit dem Bus vom Bahnhof und begannen mit dem Marktplatz mit seinen fast herrschaftlichen Gebäuden. Papenbrocks Haus
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