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Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Uwe Johnson
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und sie wird ihre Schuhe nicht nach der Eleganz kaufen, eher nach der Gesundheit. Wenn sie sich zum Sprung versammelt, werden ihr die Augen schmal, die Lippen hart. Der harte Schlag des Wassers gegen den Kopf läßt für einen Augenblick Betäubung zu, Blindheit, Abwesenheit; nicht lange.
    – Quite a header, Dschi-sain!

21. Dezember, 1967 Donnerstag
    Im Senatsausschuß für Auswärtige Beziehungen zweifeln einige Mitglieder, ob Regierung und Generalstab 1964 die Wahrheit sagten mit der Behauptung, am 4. August seien die Zerstörer Maddox und Turner Joy von Schiffen aus Nord-Viet Nam angegriffen worden. Nach Mr. John W. White aus Cheshire, Connecticut, der damals ganz in der Nähe am Unterwasserorter des Tenders Pine Island saß und die Funksprüche der Zerstörer abhörte, waren die unsicher, ob sie nun beschossen wurden oder nicht. Da wurden ankommende Torpedos signalisiert, aber es kamen keine Torpedos an. Zeigte das Radar tatsächlich eine Herde anrückender kleiner Boote? Ist Flakfeuer nachzuweisen, wurden Leuchtraketen gesichtet. Waren von Flugzeugen in der Nacht so geringfügige Kielwasser auszumachen? Das alles galt damals als wahr und reichte aus für eine Ermächtigung des Präsidenten, mit dem fremden Krieg Ernst zu machen.
    – Ein Präsident kann nicht lügen: sagt Marie: Es käme doch heraus!
    Sie steht an der Schrankküche im Eingang unserer Wohnung, in einer zu großen Schürze, ein Handtuch über dem Arm, wendet das Fleisch in der Pfanne, wischt sich mit verkantetem Unterarm ihr heißgewordenes Haar aus der Schläfe wie schon ihre Großmutter und deren Mutter, dennoch nicht wie ein Kind, das als Hausfrau aushilft, sondern als ein Mitglied des Haushalts, das seinen Teil daran versteht und übernimmt. So fotografiert, würde sie in zehn Jahren sich ausdeuten als ein Kind, das in glücklichen Umständen aufwuchs, in einer Zeit des Friedens. Sie hat sich Zeit genommen, mit halb eingezogener Unterlippe, verengerten Augen, und als sie sprach, wollte sie wohl der Mutter Aufmerksamkeit erweisen, der Erwachsenen jedoch ihre unnötigen Bedenken vorhalten. Ihr fehlt zu dem Krieg, daß sie ihn sieht.
    Sie kann den Krieg in Viet Nam nicht sehen. Zu genau hat sie von mir gehört, wie ein Krieg sich von außen anläßt. Von ihrer Schule her weiß sie keine Familie, der die Regierung einen gefüllten Sarg geschickt hat. Sie kennt die Ruinen zwischen den Avenuen Amsterdam und Columbus, aber sie werden nicht von den Bomben jenes Feindes sondern von den Abbruchkugeln der hiesigen Grundstückspekulanten geschlagen. Die kleinen Geschäfte am Broadway sterben nicht am Kriegstod der Erben, sondern an den Dollars der Miete und der Mafia. Die Regierung zieht die Autos nicht ein, und die Tankstellen machen Zugaben für die Abnahme von Benzin. Marie muß nicht daran denken, in der Nähe eines Polizisten die Stimme zu senken. Sie könnte sich nicht vorstellen, daß Mr. Weiszand morgen früh um sechs Uhr von vier Beamten in Zivil geweckt und in ein Gefängnis geholt würde, nur weil er an der Columbia-Universität Demonstrationen gegen den fernen Krieg anstiftet und anführt. Sie weiß von Eisenbahnen, von Schiffen, von Flugzeugen, daß sie für die Reise Geld braucht, nicht eine Passiergenehmigung von einer Behörde. Ich könnte ihr kaum Ware nennen, die in New York nicht zum Verkauf stünde. Dazu braucht es keinen Krieg, daß unser Telefon abgehört würde. Da müßte schon die Armee den Riverside Park vor unserem Haus besetzen und die Durchgänge zur Promenade am Hudson mit Granatwerfern absperren, um Marie halbwegs zu überzeugen. Womöglich hält sie im Grunde für nicht transportable Sachen, was ich ihr aus Deutschland erzählen kann. So mag man in Europa einen Krieg führen, nicht hier; sie ist aber hier, und damit genug beschäftigt.
    Marie ist gegen Kriege, weil dabei Personen verletzt werden können. Und sie kann nicht geradenwegs gegen meine Auskünfte angehen; sie will nicht einmal mich kränken. Sie ist hingegangen und hat in einer Schulstunde mit einer Lehrerin Streit angefangen über die Gerechtigkeit der Kampfhandlungen in Südostasien; sie hat vorher ihre Freundinnen ausgeholt, Marcia, Pamela, Deborah, Angela, weniger um Solidarität auf Vorrat zu legen, als Freundschaft nicht zu riskieren. Gegenüber Marcias Eltern, Mr. & Mrs. Linus L. Carpenter, brächte sie nicht einmal das Thema über die Lippen; die Carpenters geben Geld für Bürgerrechtler, wünschen dunkelhäutigen Bürgern überall anständige
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