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Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Autoren: Uwe Johnson
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Rentenmark, das hieß Reichsmark. Und Lisbeth hatte so viel zu tun mit dem Kochen für all die Arbeiter und mit dem Haus und mit dem Kind, sie hatte ja zwei Mädchen zur Hilfe, die bei ihr lernten, was ein mecklenburgischer Haushalt war, und doch kam sie an manchen Tagen erst am späten Abend zur Ruhe, denn oft war sie es, die nach Gneez fahren mußte und Formulare holen beim Heeresbauamt in der Eisenbahnstraße.
    Das kannst du nicht von mir verlangen, Cresspahl.
    Was kann ich nicht von dir verlangen, Lisbeth.
    Daß ich die Formulare holen muß.
    Das kann ich verlangen. Die Mädchen brauchen das nicht so genau zu wissen, und das Kind kann das noch nicht, allein auf der Eisenbahn fahren.
    Aber ich werd doch mitschuldig, Heinrich!
    Woran wirst du mitschuldig.
    Am Krieg! Die Kasernen sind doch für den Krieg.
    Lisbeth, ick kann di nich helpn.
    Könnten wir nicht … kannst du nicht rausgehen aus dem Auftrag?
    Und wovon leben wir dann, Lisbeth?
    Ach Heinrich, leben. Aber die Schuld dabei.
    Wistu nå Inglant?
    Nee!
    Weiß nich was du willst, Lisbeth.
    Cresspahl.
    Hörst du nicht, daß das Kind schreit?
    Und die Straßen in Jerichow Nord waren so sonderbar breit angelegt an manchen Stellen. Und hinter dem Riegel aus Kasernenbauten war nicht nur so viel Land eingezäunt, wie für einen Exerzierplatz nötig war. Die Zäune gingen Kilometer weit nach Westen. Und die breiten Straßen wurden immer länger, die hörten gar nicht wieder auf. Und die Kinder von Jerichow lernten lange Zeit das falsche Wort für Flugzeug, die lernten: Jäger, und sie lernten: Bomber.

18. Dezember, 1967 Montag
    Noch 1935 konnte man am Kiosk der Deutschen Reichsbahn auf dem Ende des Dampfersteges in Rande/Ostsee Fahrkarten kaufen nach überallhin, nach Lübeck wie nach London. Vielleicht dachte Cresspahl nicht mehr daran, weil die Regierung Seiner Majestät Georgs des Fünften ihn enttäuscht hatte. Zwar hatte der Österreicher die allgemeine Wehrpflicht tatsächlich wieder eingeführt und ließ einen jeden Soldaten auf sich einschwören; mußten ihm aber die Engländer behilflich sein mit der Erlaubnis, die deutsche Flotte bis zu 35 Prozent der britischen zu verstärken? die würden sich noch wundern über die zwölf deutschen Uboote, die Ende Juni 1935 in Dienst gestellt wurden, und über die folgenden auch. Und er hätte sich wohl nicht mehr willkommen geglaubt.
    Brüshaver hätte seine Kirche eine Flucht ins Ausland verboten, und offenbar fand Brüshaver nichts dabei, daß sein Sohn aus der ersten Ehe als Pilot in der Luftwaffe jenes Österreichers diente, der die Kirche kassieren wollte. Brüshaver erkundigte sich ja wohl nach dem Stand der Arbeiten in Jerichow Nord, weil er seinen Sohn dahin versetzt haben wollte, womöglich als Kommandant.
    Von den alten Papenbrocks war es nicht mehr zu erwarten. Papenbrock fand zu jeder verdächtigen Handlung des Führers und Reichskanzlers wie eh und je eine, die er nicht verdächtigte. War es ihn hart angekommen, daß der Mensch die Flagge Mecklenburgs wie die aller deutschen Länder verboten hatte, so waren die beiden Mecklenburg nun doch zum ersten Mal seit dreihundert Jahren wieder eines, und sogar die hochnäsigen Lübecker gehörten dazu; und die Wiedereingliederung des Saarlandes ins Reich, die sollte mal Einer dem Manne nachmachen. Es blieb natürlich ärgerlich, daß der Mann sich als Schriftsteller bezeichnete, und daß er nicht der Form halber etwas länger Mitglied der Braunschweigischen Gesandtschaft zu Berlin geblieben war. Und ihm, Papenbrock, hatte der Österreicher noch nichts weggenommen oder kaputt gemacht.
     
    – Wie konnte Papenbrock eigentlich zu der Trauerfeier für Herrn Stelling reisen? War der auch in der Papenbrockpartei gewesen?
    – Johannes Stelling war Sozialdemokrat gewesen, aber er hatte im Jahr 1920 als Minister des Inneren von Mecklenburg-Schwerin die Freikorps nicht behindert, die auf den mecklenburgischen Gütern saßen und auf die Arbeiter losgingen. Ohne ihn hätte Papenbrock seine Pacht in Vietsen leicht noch früher verloren. Stelling war Ministerpräsident des Landes von 1921 bis 1924 gewesen. Und Abgeordneter im Reichstag. Dem wollte Papenbrock wohl eine Ehre erweisen, wenn auch die letzte.
     
    Und Arthur Semig saß noch Ende 1935 in seinem gediegenen Haus an der Bäk von Jerichow und bekam seine Dienstbezüge im Ruhestand und fand es ordentlich. Zwar durfte er Dora nun auch von Gesetzes wegen kein Dienstmädchen mehr halten, und in Jerichow gab es keinen
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