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Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Autoren: Uwe Johnson
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Augenaufschlag würde sie sich bei mir nicht erlauben. Sogar ihre Stimme scheint fremd.
    Marie versteht den ganzen Abend als einen Besuch unter Freunden. Sie hält für möglich, daß Leute in der Arbeit durch Befehlswege und unterschiedliche Vergütung Gewalt über einander haben mögen und dennoch in der freien Zeit einen Umgang haben wie gleiche Menschen. Sie glaubt sich so unbedingt und wegen ihrer schönen Augen bewillkommnet, sie wird gleich die ganze Familie de Rosny in ihren Klientenkreis aufnehmen und mich im Freien als erstes fragen, warum Mrs. de Rosny die ganze Zeit im ersten Stock blieb, mit ziemlich schwerem Schritt durch ihre Räume wandelnd. Da wird die New York Times nicht fotografiert haben. Marie findet die Verwandlung Arthurs in einen Diener schlicht lustig und zwinkert ihm zu, wenn er die Cocktails anfährt auf einem umgebauten Kinderwagen, Paris 1908, und nimmt ihren von Arthur als Schraubenzieher deklarierten Orangensaft mit genau dem Scherz entgegen, den er eingeleitet hat. Marie hält das Gespräch vor dem Essen für sorglose Erinnerungen an die Arbeit in der fernen Stadt und bemerkt nicht, daß es tatsächlich eine rasante, unbarmherzige Prüfung ist, ob ich das Finanzsystem der Č. S. S. R. richtig und vollständig verstanden habe, auch um wieviel die tschechoslowakische Regierung mit ihrem neuen Fünfjahresplan 1966-1970 das Nationaleinkommen steigern will, und zwar auf welchen Gebieten und nämlich in der chemischen Industrie um 50 Prozent, und nun noch, ob die Tschechen und Slowaken das schaffen werden, und wenn nicht, aus welchen Gründen. Was jener Herr Kouba in der Mirovaja Ekonomika i Meshdunarodneje Otnoshenija vom Februar 1966 über das Neue System des ökonomischen Managements in der Č. S. S. R. befunden hat, es ist mir so rasch von den Lippen gegangen, ich fände die deutschen Worte dafür nicht mehr, geschweige denn das Denken hinter ihnen. Die Prüfung scheint bestanden zu sein, vielleicht mit einer Zwei minus. Marie hat nur bemerkt, daß ihre Mutter wieder einmal Vieles gewußt hat, und zeigt ihren Stolz umher mit großen glänzenden Augen.
    Es ist aber gar nicht ausgemacht, daß die Herren in Prag ernstlich ihre Wirtschaft an westlichen Valutakrediten gesundstoßen wollen. Immerhin, es ist nicht ein westlicher Finanzier bei der Státní Banka Československá vorstellig geworden, es war deren Präsident, der einen Besuch bei Karl Blessing machte, bei der westdeutschen Bundesbank. What a blessing there’s a Blessing. Die Frage an mich lautet nicht, ob das geht; nicht einmal, ob ich das will. Ich weiß von keiner Firma außer dem Hause Revlon, wo eine Frau auch nur Unterdirektorin ist, geschweige denn von einer Bank, und das wird de Rosny nicht schaffen. Das wäre das Eine.
    Marie bemerkt an dem Essen nur, wie solenn es ist. Daran haben eine Wirtschafterin, eine Köchin und schließlich Arthur mitgewirkt. Marie sieht nur, daß Arthur ihr wirklich und wahrhaftig Wein in eines von ihren drei Gläsern schenkt. Sie hält de Rosnys Erkundigungen nach meinem Lebenslauf für die reine Anteilnahme, wie sie sich unter Freunden ein Mal schickt. Was er abhält, ist ein Verhör. Das kann er machen, er ist der Arbeitgeber, er legt da Geld an mit seinem Risiko, er nimmt sich das Recht, da helfen die verbindlichsten Ausdrücke nicht, da ist die gefälligste Miene umsonst. Er will schlicht alles wissen, was ich der Personalabteilung nicht mitgeteilt habe, und es geht von den Berufsgenossenschaften des mecklenburgischen Handwerks bis zu meinen heutigen Gefühlen für die Grundzüge der marxistischen Dialektik. De Rosny kann nicht verstehen, daß Cresspahl einmal Bürgermeister von Jerichow war, und vielleicht findet er es lustig, erklärt haben will er es doch. Was Jakob angeht, so begnügt er sich mit Beruf und Todesfall. You are ever so thoughtful, Mr. Vice President. Bei dieser Gelegenheit kommt aber heraus, daß Jakob nie und nimmer die Deutsche Demokratische Republik bei einer Internationalen Fahrplankonferenz vertreten hat, auch nicht in Lissabon, und Marie ist enttäuscht. Sie hat es so fest geglaubt. Na, und wie würden die Tschechen und Slowaken sich zu meiner Person stellen? Weiß ich? Er meint: die Regierung und Partei der Tschechen und Slowaken. Es ist wahrscheinlich, daß die mir nicht böse sind. Ich muß ihnen ja nicht auf die Nase binden, daß ich durch ihr Land gereist bin mit einem Paß, in dem nur das Bild zu mir gehörte. Aber da wäre was. Die Č. S. S. R. ist
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