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Ist das Kafka?: 99 Fundstücke (German Edition)

Ist das Kafka?: 99 Fundstücke (German Edition)

Titel: Ist das Kafka?: 99 Fundstücke (German Edition)
Autoren: Reiner Stach
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im Jahr 2000 machte der Kafka-Übersetzer Mark Harman den Versuch, Kafkas legendäre ›Puppenbriefe‹ (siehe Fundstück 70) wieder aufzufinden. Seine Bemühungen blieben erfolglos; doch erreichte ihn der Anruf einer alten Dame, die sich an Kafka noch erinnern konnte: Christine Geier, die Tochter des Schriftstellers Carl Busse (gestorben 1918) und dessen Ehefrau Paula, bei der Kafka und Dora Diamant von Februar bis März 1924 als Mieter gelebt hatten.
    Christine Geier berichtete, ihre Mutter habe ihr Kafka als den angeblichen Chemiker »Dr. Kaesbohrer« vorgestellt, und dessen wahre Identität habe sie erst nach seinem Auszug erfahren. Dass Kafka – der sich schon zu kleinen Notlügen kaum durchringen konnte (siehe Fundstück 8) – seinen tatsächlichen Namen wochenlang verheimlicht haben sollte, wäre erstaunlich, aber nach seinen schlechten Erfahrungen mit der vorherigen Vermieterin immerhin denkbar. Ebenso gut kann es aber auch die Hausbesitzerin selbst gewesen sein, die Gerede in der Nachbarschaft oder in der Schule vermeiden wollte und die daher einen eindeutig nicht-jüdischen Mieter bevorzugte – obwohl sie selbst konvertierte Jüdin war.
    Christine Geier erzählte eine weitere Begebenheit:
Wir hatten eine Laube, da war mit der Zeit ein richtiges Laubdach gewachsen, und Kafka sah von seinem Balkon direkt darauf. Ich spielte dort immer mit meiner Freundin, wir hatten dort eine Bank, auf die mein Vater ›Freundschaftsbänkchen für zwei junge Gänschen‹ geschrieben hatte. Und eines Tages – da war er schon sehr krank –, da hörten wir etwas, er konnte uns ja nicht sehen: wie er seinen Schleim da runtergespuckt hat. Das ging so ein paar Tage, und dann hab ich’s Mutti erzählt, und die war entsetzt – Kafka hat natürlich keine Ahnung gehabt, dass da Kinder unten sind –, und dann hat Mutti uns verboten, in die Laube zu gehen. Aber da konnte er ja nichts für. Er hatte eine sehr nette Art: Ein netter Onkel, will ich mal sagen.

    Ob der tuberkulosekranke, stark abgemagerte und ständig hustende Kafka je zur Rede gestellt wurde, ist nicht überliefert. Mit dem eigenen Auswurf Kinder anzustecken, und sei es aus Unwissenheit, wäre ihm wohl als verbrecherisch erschienen.
    Nach nicht einmal sieben Wochen im Haus der Frau Busse musste Kafka aus gesundheitlichen Gründen Berlin verlassen. Seine Vermieterin überlebte später das Konzentrationslager Theresienstadt.
    Die Abbildung zeigt die Villa Busse in Berlin-Zehlendorf, damals Heidestraße 25–26. Auf der Freitreppe links Paula Busse mit einer ihrer beiden Töchter. Kafka hatte zwei Zimmer im 1. Stock gemietet.
    Das Gebäude auf dem heutigen Grundstück Busseallee 7–9 existiert nicht mehr. Christine Geyer starb am 31. Januar 2009 im Alter von 100 Jahren.

12
    Der einzige Feind
    Ein besonders auffallendes Merkmal von Kafkas sozialem Leben war es, dass ihm von allen Seiten Sympathie entgegengebracht wurde: von Männern wie von Frauen, von Deutschen und Tschechen, Juden und Christen. Kafka war beliebt nicht nur unter Kollegen und Vorgesetzten, die ihn über längere Zeit beobachteten, sondern auch unter ganz fremden Tischgesellschaften, zu denen er sich in Hotels und Kuranstalten gesellte, und im weitläufigen Bekanntenkreis seiner Freunde. Kafka war im alltäglichen Umgang freundlich, hilfsbereit, charmant, ein einfühlsamer Zuhörer, dabei aber völlig unaufdringlich, und vor allem seine originellen selbstironischen Äußerungen sorgten dafür, dass niemand ihn als intellektuellen oder erotischen Konkurrenten empfand. Von publizistischen Fehden hielt sich Kafka fern, und auch in den überlieferten Tagebüchern und Briefen naher Zeitgenossen findet sich kein böses Wort über ihn.
    Mit einer bemerkenswerten Ausnahme. »Kafka wird, je länger ich von ihm entfernt bin, desto unsympathischer mit seiner schleimigen Bosheit.« So der Arzt und Schriftsteller Ernst Weiß in einem Brief an seine Geliebte, die Schauspielerin Rahel Sanzara. Weiß war einer der wenigen Freunde Kafkas, die nicht aus dem Umfeld Max Brods stammten und die mit Brod in gewissem Sinn konkurrierten. Nach Weiß’ Auffassung wäre es für Kafka die einzig denkbare Lösung seiner Lebensprobleme gewesen, sich aus den vielfachen Prager Bindungen zu lösen und eine literarische Existenz in Berlin zu begründen.
    Wie es zu dem Bruch kam, ist nicht völlig geklärt, doch war Weiß offenbar erbost darüber, dass Kafka eine seit langem versprochene Rezension seines Romans Der Kampf
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