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Ist das Kafka?: 99 Fundstücke (German Edition)

Ist das Kafka?: 99 Fundstücke (German Edition)

Titel: Ist das Kafka?: 99 Fundstücke (German Edition)
Autoren: Reiner Stach
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nur frei, sondern sammelten spontan Geld für sie.
    Einige Jahre später, im Herbst 1916, schrieb Kafka an Felice Bauer: »Bei einer Stelle musste ich zu lesen aufhören und mich auf das Kanapee setzen und laut weinen. Ich habe schon seit Jahren nicht geweint.« Er bezog sich damit auf Arnold Zweigs Schauspiel Ritualmord in Ungarn , über das er sich ansonsten recht kritisch äußerte. Gegen Ende des Stücks gibt es jedoch eine ausgesprochen rührende Szene, in der die Mutter des Mordopfers, mittlerweile erblindet und resigniert, unwissenderweise dem Mörder ihrer Tochter begegnet und ihn für ihren Wohltäter hält.
    Dass Kafka in Gegenwart anderer gänzlich die Fassung verlor, ist offenbar nur ein einziges Mal geschehen: nach dem endgültigen Abschied von Felice Bauer. An jenem Tag Ende 1917 tauchte er überraschend in Max Brods Büro auf, der die Szene später in seinen Erinnerungen an Kafka schilderte: »Um sich für einen Moment auszuruhen, sagte er. Er hatte eben F. zur Bahn gebracht. Sein Gesicht war blaß, hart und streng. Aber plötzlich begann er zu weinen. Es war das einzige Mal, daß ich ihn weinen sah. Ich werde diese Szene nie vergessen, sie gehört zu dem Schrecklichsten, was ich erlebt habe.« Schon am folgenden Tag schrieb Kafka an seine Schwester Ottla, er habe an diesem Vormittag mehr geweint als in all den Jahren seit seiner Kindheit.

15
    Kafka mag Else Lasker-Schüler nicht
    Eine der charakteristischen Eigenheiten Kafkas war es, dass er Antipathien so gut wie nie zu erkennen gab. Selbst in seinen Tagebüchern finden sich allenfalls mild ironische, kaum jedoch streitbare oder aggressive Äußerungen über andere. Die jahrelange ›Pflege‹ von Feindschaften, wie sie etwa Max Brod mit beträchtlichem Aufwand betrieb, war Kafka völlig fremd, und selbst in den sehr seltenen Fällen, da Bekanntschaften in Zerwürfnissen endeten – wie mit dem Schriftsteller Ernst Weiß –, fand er noch Worte des Verständnisses.
    Um so auffallender die einzige Ausnahme von dieser Regel: Über die in Berlin lebende Schriftstellerin Else Lasker-Schüler äußerte sich Kafka mit ungewöhnlicher Schärfe, und ganz gegen seine sonstige Gewohnheit ließ ihn auch ihr persönliches Unglück kalt. An Felice Bauer schrieb er:
Ich kann ihre Gedichte nicht leiden, ich fühle bei ihnen nichts als Langweile über ihre Leere und Widerwillen wegen des künstlichen Aufwandes. Auch ihre Prosa ist mir lästig aus den gleichen Gründen, es arbeitet darin das wahllos zuckende Gehirn einer sich überspannenden Grossstädterin. Aber vielleicht irre ich da gründlich, es gibt viele, die sie lieben, Werfel z.B. spricht von ihr nur mit Begeisterung. Ja, es geht ihr schlecht, ihr zweiter Mann hat sie verlassen, soviel ich weiss, auch bei uns sammelt man für sie; ich habe 5 K hergeben müssen, ohne das geringste Mitgefühl für sie zu haben; ich weiss den eigentlichen Grund nicht, aber ich stelle mir sie immer nur als eine Säuferin vor, die sich in der Nacht durch die Kaffeehäuser schleppt.
    Im Jahr 1913 kreuzten sich die Wege Kafkas und Lasker-Schülers gleich zweimal. Zunächst an Ostern im Berliner Literatencafé Josty; dieses Treffen ist dokumentiert durch eine gemeinsame Postkarte an den Verleger Kurt Wolff, unterzeichnet von einer Reihe von Autoren, darunter Kafka und Lasker-Schüler. Zwei Wochen später kam Lasker-Schüler zu ihrer ersten Lesung nach Prag, wo sie schon am Bahnhof von einer Gruppe von Fans empfangen und dann zu einem nächtlichen Rundgang durch die Altstadt geführt wurde. Dabei kam es zu einem burlesken Zwischenfall, den die Prager Tageszeitung Bohemia schilderte:
    » Die Dichterin und der Polizist . Heute um zwölf Uhr nachts erregte ein kurzer Vorfall die Beachtung der nächtlichen Passanten. Auf dem Altstädter Ring wurde eine abenteuerlich gekleidete Dame von einem Wachmann in brüsker Weise angefahren, weil sie mit verzückten Mienen und rhythmischen Schwingungen ihres Leibes unzusammenhängende Worte gegen das Firmament sang… Die Dame, die ein schwarzes Gewand und um den Hals, der von schwarzen, wallenden Locken umsäumt war, eine Onyxkette trug, war Else Lasker-Schüler. Vergeblich machten die Begleiter der Dichterin… den Polizisten darauf aufmerksam, dass es sich um einen exotischen Gast aus Theben handle (Else Lasker-Schüler spricht sich in ihren Gedichten immer als Prinz von Theben an), der hier ein morgenländisches Gebet verrichte. ›Das ist mir wurscht!‹ antwortete der Wachmann, ›hier
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