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Isau, Ralf

Isau, Ralf

Titel: Isau, Ralf
Autoren: Gerry
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Leonardo da Vinci entstammen können. In Karls Augen war der mit Büchern voll gestopfte Laden eine Insel der Glückseligkeit.
    Um nicht den Eindruck hemmungsloser Neugier zu erwecken, wandte er sich schnell wieder dem Inhaber zu und versuchte nicht daran zu denken, was Herr Trutz durch sein silbernes Monokel sah: einen groß gewachsenen, bebrillten jungen Mann von vierundzwanzig Jahren, mit klobigen Gliedmaßen, der in einem abgetragenen grauen Mantel steckte und hingebungsvoll seine Schuhspitzen betrachtete. Sein aschblondes Haar lichtete sich bereits. Vermutlich würde ihn der Antiquariatsinhaber für zehn Jahre älter halten, als er tatsächlich war, und schnell wieder abwimmeln.
    »Was ist Ihr größter Wunsch?«, fragte Herr Trutz unvermittelt.
    Karl starrte den alten Mann mit offenem Mund an. Die Eröffnung des Bewerbungsgesprächs hatte er sich ganz anders vorgestellt, und seine Erwiderung klang nicht gerade wie die eines zukünftigen Geschäftsführers: »Ich liebe Bücher.«
    Herrn Trutzens rechtes Auge, in dem das Monokel klemmte, zog sich noch etwas weiter zusammen. »Sagen Sie das nur, weil ich so etwas in meine Annonce geschrieben habe?«
    »Nein, weil es stimmt.«
    »Aber es beantwortet nicht meine Frage: Was ist Ihr größter Wunsch, Herr Koreander?«
    Karls Blick sank wieder auf die abgescheuerten Schuhspitzen. »Entschuldigen Sie, Herr Trutz, aber was ich sagen wollte, ist Folgendes: Ich liebe Geschichten von Abenteuern und großen Gefühlen, Märchen und Legenden, Fabeln und Sagen, Prosa und Poesie – mit ihnen möchte ich mich umgeben, darin leben und ...«
    »Und?«
    «... andere Menschen daran teilhaben lassen.«
    Das Monokel fiel aus der Augenhöhle des Herrn Trutz, wurde aber von einer schwarzen Seidenschnur abgefangen.
    »Für einen jungen Mann haben Sie reichlich antiquierte Ansichten.«
    Karl schob das Kinn vor. »Sie meinen, weil mancher heute lieber Bücher auf dem Scheiterhaufen verbrennt, anstatt sie zu lesen? Wenn das die neuen Zeiten sind, bin ich gerne altmodisch. Apropos antiquiert – wenn ich mich nicht irre, ist das hier doch ein Antiquariat, oder?«
    Die blauen Augen des Buchhändlers funkelten verschmitzt. »Gute Antwort, junger Mann! Ja, es ist eines, wie jeder auf der Tür draußen lesen kann. Aber Sie wissen hoffentlich, dass die Behörde unsereinen mit Argwohn betrachtet. Sie schickt uns regelmäßig ihre Zensoren, stille Herren mittleren Alters mit abgewetzten Ärmeln, die in den Regalen herumstöbern und glänzende Augen bekommen, sobald sie ein Buch finden, das auf ihrer schwarzen Liste steht. Dann blühen sie auf. Sie erteilen eine Verwarnung, im Wiederholungsfall gibt es eine Anzeige, und natürlich beschlagnahmen sie das ›entartete‹ Buch, um es für die nächste Verbrennung wegzusperren.«
    Karl seufzte. »Wenn man sie nur irgendwie retten könnte!«
    »Das würden Sie wagen?«
    Der junge Mann erschrak. Würde ich es? Ausweichend antwortete er: »Ich bin von der Universität geflogen, weil meine Fragen den Herren Professoren unangenehm aufgestoßen sind.«
    Herr Trutz sog an seiner Meerschaumpfeife und schickte ein weiteres blaues Wölkchen auf die Reise. »Was haben Sie studiert?«
    »Geschichte. Natürlich nur die amtlich zugelassene. Auf die Dauer war das ziemlich eintönig.«
    »Und woher kommt Ihre Liebe zur Literatur?«
    »Schon als kleiner Junge habe ich Bücher nur so verschlungen. Sie halfen mir über manche trostlose Stunde hinweg.«
    Herr Trutz nickte versonnen, als habe er aus Karls Worten wesentlich mehr herausgehört, als der von sich preisgeben wollte. »Als Marie, meine liebe Frau, gestorben ist, habe ich auch aus einem Buch neue Kraft geschöpft – was nicht heißen soll, dass ich sie nicht immer noch sehr, sehr vermisse.«
    Karl konnte es dem traurigen Blick des Witwers ansehen. Er fühlte sich ein wenig unbehaglich. »Das tut mir Leid.«
    Herr Trutz nickte abermals. Ein wehmütiges Lächeln huschte über sein Gesicht. Für einen Moment wirkte er abwesend, aber dann straffte er sich und fragte, mit dem Pfeifenstiel auf die Regale deutend: »Möchten Sie sich ein wenig in meinem Laden umsehen, Herr Koreander?«
    »Gerne. Wenn ich Ihre Zeit damit nicht zu sehr ...«
    »Das geht schon in Ordnung. Wir beide müssen heute Abend eine Entscheidung fällen. Wenn Sie in Zukunft hier arbeiten wollen, sollten Sie ja auch wissen, wie Ihr Wirkungsfeld aussieht, oder?«
    Karl nickte und wandte sich benommen den Regalen zu. Dieser schrullige Alte tat ja
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