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Isabelle

Isabelle

Titel: Isabelle
Autoren: Felix Thijssen
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großen Fenster lehnte.
    Eilig lief sie zu ihm hin.
    Der Mann hatte die Augen geschlossen. Die Zeitung war über den Rand des Tisches hinweg auf seinen Schoß gerutscht. Seine Kaffeetasse war noch halb voll. Sie konnte nicht erkennen, ob er atmete.
    Vorsichtig berührte sie seine Schulter. Mit einem Ruck drehte er den Kopf zur Seite. Für den Bruchteil einer Sekunde blitzte Argwohn in seinen Augen auf. Sie waren dunkelblau, wie Kornblumen.
    »Pardon«, sagte sie. »Ich dachte …«
    Er rieb sich über das Gesicht. Wieder sah sie die Narbe auf seinem Handrücken.
    »Haben Sie Kopfschmerzen? Ich kann Ihnen Aspirin bringen, wenn Sie möchten.«
    »Wie spät ist es?«
    »Halb elf.«
    Diese Auskunft schien ihn zu beruhigen. Er nahm die Zeitung vom Schoß und faltete sie zusammen. »Nein danke, ich brauche kein Aspirin.«
    »Sie waren eingeschlafen.«
    »Ja, es ist sehr ruhig hier, und dazu die Musik …«
    »Bringt die Musik Sie zum Einschlafen?«, fragte sie geradeheraus.
    Der Mann schaute sie an. Das Kornblumenblau wirkte freundlich. »Nein, ich finde sie schön.«
    »Kennen Sie sie?«
    »Nein, ich verstehe nichts von Musik, aber diese hier ist genau das Richtige, wenn man aus dem Hexenkessel da draußen kommt.« Er deutete mit einer knappen Kopfbewegung in Richtung der Autobahn hinter ihm. »Sie lässt mich die Zeit vergessen.«
    Isabelle lächelte zufrieden. »Ich habe die Musik ausgesucht.« Sie lauschte einen Moment. »Das ist Gabriel Fauré.«
    Sein Blick wanderte von ihrem Gesicht hinunter zu ihren Schultern und Brüsten. Das machte sie verlegen, und sie sagte rasch: »Ihr Kaffee ist kalt geworden. Soll ich Ihnen einen neuen bringen?«
    Der Mann nickte. Sie nahm das Tablett und ging damit rasch zum Tresen.
    Während sie den Kaffee einschenkte, schaute sie in seine Richtung. Er saß regungslos mit dem Rücken zu ihr und blickte auf das Weideland. Die Barcarolle ging zu Ende, und ein paar Sekunden lang blieb es still, bis eine Nocturne von Chopin einsetzte, die sie ausgewählt hatte. Auf der »Straßenseite« packte der Buchhalter seine Klemmordner zusammen und steckte sie in eine Tasche, machte aber noch keine Anstalten aufzubrechen.
    Die ganze Szenerie wirkte ungewöhnlich hell, wie vor Kulissen aus Eis oder auf surrealistischen Gemälden, an die sie sich erinnerte. Vergeblich versuchte sie zu ergründen, warum dieser Vormittag etwas so Seltsames an sich hatte. Inzwischen trafen weitere Gäste ein, die ersten Kaffeetrinker, aber ihre Stimmen und Bewegungen waren anders als sonst, als nehme Isabelle sie aus der Ferne wahr, als stimme etwas mit ihren Augen und Ohren nicht.
    »Solche Musik hört man nicht oft in Cafés«, sagte der Mann, als sie ihm seinen Kaffee brachte. »Sind es ausschließlich Klavierstücke?«
    »Die meisten«, antwortete Isabelle. »Ich dachte, so etwas würde den Gästen gefallen.«
    »Und Ihr Chef war damit einverstanden?«, erkundigte er sich mit freundlichem Spott.
    »Zuerst dachte er, die Musik sei vielleicht nicht kommerziell genug.«
    »Aber er ließ Sie trotzdem gewähren?«
    »Ich habe einen Artikel über Musik in der Gastronomie gelesen.« Sie biss sich auf die Lippen. »Anscheinend haben immer mehr Leute sowohl allzu großen Lärm als auch das eintönige Gedudel satt, das man in Aufzügen und Kaufhäusern zu hören bekommt. Dabei kann man ja wirklich verrückt werden.«
    Ungläubig zog er eine Augenbraue hoch. »Von Kaufhausmusik?«
    »Ich schon«, erwiderte sie dickköpfig. »Na ja, wir betrachten es als Experiment. Sobald sich jemand beschwert, ist Schluss damit.«
    Der Mann lächelte. »Ich zumindest werde mich nicht beschweren.«
    »Letty sagt, sie fühle sich dabei manchmal wie in der Kirche.«
    Er lauschte der Klaviermusik und verrührte die Milch in seinem Kaffee. »Wer ist Letty?«
    »Meine Kollegin.« Sie schaute sich zum Tresen um. Letty stand am Computer und stellte die Rechnung für den Buchhalter zusammen. Isabelle fiel ein, wie merkwürdig es war, dass er jetzt den Vornamen ihrer besten Freundin kannte, aber nicht den ihren. Sie wandte sich wieder dem Mann zu und sah, dass er sie erneut aufmerksam betrachtete. Sein Blick wanderte gelassen von ihren Brüsten zurück zu ihrem Gesicht. Es schien ihn nicht zu stören, dass sie ihn dabei ertappt hatte.
    »Es ist schöner als in der Kirche«, sagte er.
    Isabelle nickte und kehrte an den Tresen zurück. Praktisch alle Männer gafften die Serviererinnen an; daran war sie gewöhnt. Sie und ihre Kolleginnen interessierten sich ja
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