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Irrliebe

Irrliebe

Titel: Irrliebe
Autoren: Klaus Erfmeyer
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mal als Frau wahrnimmt. Arme Socke. Klar?«
    Marie und Stephan merkten, dass sich der Laienpsychologe Alexander Hilbig selbstgefällig und überheblich in den Anzeigentexten suhlte, die tagtäglich über seinen Schreibtisch gingen.
    »Erscheint nächste Woche unter 1171«, fügte Hilbig an. »Sie hat Bargeld beigelegt. Ich wette, die Anzeige wird vergeblich sein. Verschenktes Geld.«
    »Und Sie schauen wirklich nie in die Antwortbriefe?«, fasste Stephan ungläubig nach.
    »Sie stellen merkwürdige Fragen«, antwortete Hilbig und schaukelte behaglich in seinem Sessel. »Dass Sie das fragen, zeigt, dass Sie es für möglich halten. Also wird Ihnen mein Schwur, dass ich es nicht tue, keine Befriedigung verschaffen. Es ist tatsächlich so, dass ich nicht reinschaue. Aber ich weiß aus der Anzahl der eingehenden Briefe, welche Anzeigen beim Leser ziehen und welche nicht. 1171 wird ein Rohrkrepierer. Vielleicht antworten ihr zwei oder drei Loser, die selbst seit Jahren mit dem von Mama gestrickten Pullunder unter dem Tannenbaum sitzen.« Er kicherte.
    »0829«, brachte Marie in Erinnerung zurück.
    »Wunderschön«, parierte Hilbig urteilssicher. »Schätze mal, es gab um die 50 Zuschriften. Das ist viel, glauben Sie mir. 0829 liegt in meinem Ranking ganz weit vorn.« Er schnalzte mit der Zunge.
    »Also …«, drängte Marie.
    »Die ersten beiden Ziffern stehen stets für den jeweiligen Erscheinungsmonat. Es geht also um die Augustausgabe.«
    Hilbig beugte sich vor und rief im Computer Franziskas Anzeigentext auf. Dann las er ihn fast feierlich vor: » Wenn ich mich hingebe, dann dem einen, der mich fesselt, verspielt das Dunkle liebt und vor dem Lichte flieht, Grenzen sprengt und in die Weite sieht, mich verehrt und mich durchs Leben lenkt, mit mir sich an der Lust betrinkt, Seele und Gedanken mit Erregung tränkt, mich vor Glück erschauern und erzittern lässt, bedingungslos mit mir das Glück einfängt. «
    Alexander Hilbig hatte den Reim fast andächtig vorgetragen. Er blickte verzückt auf, als er geendet hatte.
    »Und?«, fragte er.
    »Sehr devot«, fand Stephan.
    »Aber es ist keine Sado-Maso-Anzeige«, war sich Hilbig sicher. »Die Frau hat Mut. Sie hätte sich direkter ausgedrückt, wenn sie so etwas gewollt hätte.« Er blickte wieder auf den Bildschirm.
    »Es ist eines der wenigen Inserate, das keine Hinweise auf das Alter, das Aussehen, den Wohnort oder irgendwelche ohnehin meist belanglosen Interessen der Verfasserin gibt. Und trotzdem hat der Leser eine recht genaue Vorstellung von der Frau, die allein der Fantasie entspringt.«
    »Welche Vorstellung haben Sie denn von ihr?«, fragte Marie.
    Hilbig dachte nicht lange nach.
    »Man stellt sich eine Frau vor, deren ganze Existenz einen einzigen Fokus hat: Sinnlichkeit. Alles in dieser Anzeige ist weit und eng, verträumt und doch real und immer wieder von starker Bindung geführt. Die Sinnlichkeit dominiert alles und verschluckt deshalb die Äußerlichkeiten. Die Frau muss hübsch sein – weil sie sinnlich ist. Sie will Sinnlichkeit erfahren und in dieser Hinsicht auch erobert und geführt werden.«
    »Wenn man es so sehen will …«, sagte Marie. »Haben Sie auch eine Vorstellung von ihrem Charakter?«
    Hilbig überlegte nur kurz. »Wer durch Höhen und Tiefen saust, das Irreale sucht und trotzdem weich landen will, kann schon etwas schwierig sein«, vermutete er. »Aber extrem interessant. – Ich sage ja auch nicht, dass ich auf die Anzeige geantwortet hätte. Aber die Frau strahlt ohne Zweifel etwas Besonderes, vielleicht auch etwas Mystisches aus. Kein Vergleich zu den langweiligen Frauen, deren verzweifelte Anzeigen wir hier veröffentlichen müssen. Wir nennen das Restefischen.« Er lachte. »Aber 0829 gehört nicht zu den Resten, 0829 gehört zu den Besten.« Er blickte zu Marie. »Sie sollen doch eine Freundin von ihr gewesen sein. Wie war sie denn nun wirklich? Sie war eine sehr hübsche Frau, nicht wahr?«
    »Haben Sie Ihre Charakterstudie über 0829 auch dem Staatsanwalt mitgeteilt, der Sie nach dem Anzeigentext gefragt hat?«, wollte Marie wissen, ohne Hilbigs Frage zu beantworten.
    »Es steht mir nicht zu«, erwiderte er bescheiden. »Der Staatsanwalt wollte nur den Wortlaut der Anzeige erfahren und fragte nach Absenderadressen auf den Antwortbriefen. Aber die registrieren wir hier nicht. Antworten werden der angegebenen Chiffrenummer zugeordnet und dann dem nur uns bekannten Inserenten zugesandt. Wir leben von der Vertraulichkeit. Es ist doch
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