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Irrliebe

Irrliebe

Titel: Irrliebe
Autoren: Klaus Erfmeyer
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schon. Es war schon einer von der Staatsanwaltschaft da, der mir die Story erzählt hat. Kommen Sie!«
    Er ging schlurfend voran, stieß eine Zwischentür auf, drückte den Fahrstuhlknopf und musterte Marie und Stephan, während sie warteten.
    »Es ist nicht so selten, dass der Inserent nicht mit dem Auftraggeber identisch ist«, wusste er. »Manche wollen doch lieber anonym bleiben und schämen sich ein bisschen. Die schieben dann jemand anderen vor. Wir bedienen das. Man kann ja auch bar bezahlen und das Geld für das Inserat gleich dem schriftlichen Auftrag beifügen. Wir brauchen also keine wirklichen Adressen und keine Bankverbindungen. Manche lassen sich die Zuschriften auch an eine leer stehende Wohnung in Papas Mietshaus schicken, an deren Briefkasten noch schnell ein Name angebracht wird. Ist uns alles egal. Alle sollen ihre Nische haben, in der sie unerkannt bleiben. Je perfekter unsere Gesellschaft nach außen wird, desto mehr braucht sie Schlupfwinkel. In Deutschland entwickelt sich eine Subkultur der Schlupfwinkel. Wir leben von diesen Winkeln.« Er kicherte albern.
    Der Aufzug kam. Hilbig presste sich mit Marie und Stephan in den engen Fahrkorb. Im Lift roch es nach ätzenden Putzmitteln.
    »Sie werden gleich sehen, was ich meine«, sagte er.
     
    Die Redaktion des Anzeigenteils befand sich im dritten Obergeschoss des schmalen Gebäudes und bestand aus zwei Büros, von denen Hilbig das deutlich kleinere belegte. Auf der schmucklosen Schreibtischplatte, die mit einem robusten, stählernen Untergestell versehen war, standen ein moderner Flachbildschirm und die zugehörige Computertastatur. Ansonsten war die Platte übersät mit Verlagspost, insbesondere mit Inseraten, die der Verlag der Einfachheit halber auf Formularen präsentiert haben wollte, die jeder Ausgabe von Kult-Mund beigeheftet waren. Die Vordrucke gaben die Breite der Anzeige und die maximale Zeilenanzahl vor. Der Inserent musste nur den gewünschten Text eintragen und die Schriftart ankreuzen.
    »Heute ist Redaktionsschluss für die Novemberausgabe«, erklärte Hilbig, während er sich lässig schnaufend in seinen ausgeleierten Chefsessel warf, »deshalb herrscht hier ein gewisses Chaos.«
    Er wühlte kurz durch einen Papierstapel in einem rechts stehenden Plastikkörbchen, dann zog er ein ausgefülltes Anzeigenformular hervor.
    »Da!«, präsentierte er mit eigenartiger Genugtuung und las vor: »36-Jährige, tageslichttauglich, vielseitig, Hobby Salsa-Tanz, will Weihnachten nicht allein unter dem Tannenbaum sitzen. Suche dich. Alles kann, nichts muss.«
    »Das ist doch nicht 0829?«, fragte Stephan unsicher.
    Hilbig grinste. »Na, Herr Knobel, wen stellen Sie sich darunter vor? Würden Sie auf diese Anzeige antworten? – Nun los: Alles kann, nichts muss …, das turnt doch an, oder?«
    Stephan zögerte.
    »Nein, das ist nicht 0829«, erklärte Hilbig und verdrehte überdrüssig die Augen. Dann legte er das Formular eigentümlich behutsam in das Körbchen zurück.
    »Das ist eine traurige Frau, die sitzen gelassen wurde oder noch nie einen Kerl hatte«, erklärte er. »Sie hat kein Selbstbewusstsein. Entweder ist sie hässlich oder sie empfindet sich so. Tageslichttauglich schreibt mindestens jede zehnte. Mit Salsa-Tanz schmeißt sie einen Hingucker in die Anzeige. – Nicht wahr, Herr Knobel, da haben Sie gleich eine rassige Schönheit vor Augen. – Aber keine Sorge, sie hat es nur als Hobby. Vielleicht guckt sie sich Salsa auch nur mal im Fernsehen an. Vermutlich kann sie mit Salsa gar nicht viel anfangen. Sie weiß, dass sie langweilig ist. Sie darf nicht zu hohe Erwartungen wecken, schon weil sie selbst unsicher ist. Also muss sie einen kleinen Appetizer setzen: Salsa. – Jede Wette, da ist nichts dahinter. Weihnachten will sie nicht allein unter dem Baum sitzen. Und warum nicht? Weil sie völlig unselbständig ist und nicht allein sein kann. Wahrscheinlich weiß sie, wie es ist, allein unter dem Baum zu sitzen. Sie kennt das seit Jahren. Jedes Jahr um diese Zeit kommen solche verzweifelten Appelle in unsere Redaktion. Für mich sind sie die absoluten Killer. Nur der letzte Satz sagt verklausuliert, was diese Frau will: Sie will endlich richtig rangenommen werden. Sie will Sex. Sie will sich ausleben und geliebt werden. Darum geht es. Alles andere ist egal. Sie ist vielseitig, schreibt sie. Das heißt: Sie ist beliebig. Sie hat keine Persönlichkeit. Sie lässt alles mit sich machen, will sich einem Kerl unterordnen, der sie endlich
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