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Irre - Wir behandeln die Falschen - Unser Problem sind die Normalen - Eine heitere Seelenkunde

Titel: Irre - Wir behandeln die Falschen - Unser Problem sind die Normalen - Eine heitere Seelenkunde
Autoren: Manfred Luetz Eckart von Hirschhausen
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Vielleicht gibt es im Paradies ein lustiges Durcheinander von Schizophrenen, Manikern, Neurotikern und Psychopathen - aber niemanden mehr, der darunter leidet, und vor allem keine Psychiater, die die Fülle des Außergewöhnlichen in biedere Diagnosen verpacken.
     
    Und wenn nicht das Gewöhnliche, sondern das Außergewöhnliche Ewigkeitscharakter haben sollte, dann mag es sein, dass es im Himmel vielleicht sogar überhaupt nichts Normales geben wird, sondern nur Originales, nichts Serienmäßiges, sondern nur Echtes, nichts Mittelmäßiges, sondern nur Staunenswertes. Dann hätte sich der »Münchner im Himmel« vielleicht so richtig wohlgefühlt und wäre nicht am ewigen Hallelujasingen verzweifelt.
     
    Von einem so farbenfrohen Himmel scheinen wir heute allerdings hier auf unserer Erde weiter entfernt als je zuvor. All die ordentlichen Normalen haben uns gezähmt und das Leben uniformiert. Hotels sehen in der ganzen Welt inzwischen gleich aus, Krawatten und Anzüge auch, und selbst die Umgangsformen haben sich weltweit angeglichen. Exotisches gibt es eigentlich nur noch im Museum. Und alles Irritierende soll irgendwie »psychologisch« wegerklärt oder am besten psychiatrisch weggesperrt werden. Es sind die Normalen, die psychisch Kranke aussondern, zugleich aber wirksame Behandlungsformen gedankenlos verteufeln.
     
    Die Tyrannei der Normalität lebt von der großen Illusion der ewigen Weiterexistenz des Normalen und der Flüchtigkeit des Außergewöhnlichen. Dabei wird es wohl eher umgekehrt sein. Denn das Normale ereignet sich nicht, es ist nur der Hintergrund für das Eigentliche. Im Grunde existiert das Normale nicht, denn es hat keine Substanz. Die Frage nach der Ewigkeit stellt sich erst angesichts der Unwiederholbarkeit eines Menschen, und wer da genauer hinsieht, kann die Außergewöhnlichkeit eines jeden Menschen gewahren. Dann kommen in hellen Momenten sogar hinter dem Schleier der wohlanständigen Normalität all der Normopathen die längst
vergessenen lebendigen Farben zum Vorschein, und an diese einmaligen Färbungen erinnert man sich, wenn man sich an Menschen erinnert.
     
    Oft freilich sind die Schleier in einer normierten Gesellschaft so dicht, dass man keine Farben mehr erkennen kann. Dann sind es nur noch die außergewöhnlichen Menschen, die uns an das erinnern, was eigentlich hinter all den Menschen wirklich steckt. Nicht »krank« ist also der Gegensatz von »normal«, sondern vielmehr »außergewöhnlich«. Und von den Außergewöhnlichen sind einige behandelbar krank und andere dauerhaft hilfsbedürftig behindert, die übrigen Außergewöhnlichen aber sind die farbigen Grenzgänger unserer Gesellschaften.
     
    Das Mittelalter und die frühe Neuzeit feierten solche Gestalten. Wer die Berichte von der prallen Farbigkeit des Lebens im »Herbst des Mittelalters« liest, wer die literarischen Annäherungen in Victor Hugos hinreißendem Menschheitsdrama, dem »Glöckner von Notre Dame«, und in Giuseppe Verdis tragischem Narrenstück »Rigoletto« bewundert, der mag für kurze Momente bedauern, dass er die unglaubliche Intensität dieser Zeiten und ihrer Menschen nicht leibhaftig miterleben kann. Das verkennt nicht die heftigen Kontraste und tiefen Schatten, die über diesen Epochen liegen. Doch aus jenen Zeiten dringt uns Heutigen noch der Festlärm der Menschen ans Ohr, die zu feiern wussten, wo man nie gewiss war, dass nicht schon im nächsten Moment Gevatter Tod, in welcher Gestalt auch immer, das letzte Stündchen einläutete. Es war die Zeit lange vor der Erfindung des Small-Talks, lange vor der Erfindung jener genormten unvermeidlichen Canapees, die uns heutzutage von der Wiege bis zur Bahre bei jedem Anlass gereicht werden, die Zeit lange vor den ritualisierten Festreden, die mit vielen leeren Worten nichts sagen. Gewiss, man sündigte auch in jenen Zeiten. Aber man sündigte kräftig und nicht routinemäßig. Und so waren auch die großen Sünder große Anreger, zum Guten wie zum Schlechten.

     
    Man musste damals wohl das Außergewöhnliche nicht eigens suchen. Doch auch heute gibt es sie, die Außergewöhnlichen, die Menschen mit dem gewissen Etwas. Und auch heute geben sie dem Leben jenen würzigen Geschmack, der das Leben so lebenswert macht.
     
    Behandeln wir also wirklich die Falschen? Ja und nein. Es ist ein Glück, dass psychisch Kranken in unserer Gesellschaft heute viele gute Behandlungsmethoden zur Verfügung stehen. Und das ist gut so. Wenn aber mit Behandlung nicht
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