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Irre - Wir behandeln die Falschen - Unser Problem sind die Normalen - Eine heitere Seelenkunde

Titel: Irre - Wir behandeln die Falschen - Unser Problem sind die Normalen - Eine heitere Seelenkunde
Autoren: Manfred Luetz Eckart von Hirschhausen
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Ironie. Die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts haben jedenfalls die Instrumente erfunden und ausprobiert, mit denen man eine solche Diktatur der Normalität umsetzen kann. Auch wenn sich jene Staatsformen im Kampf der Systeme als zu schwach erwiesen und ihre Inhalte zu Recht auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet sind: Dass man eine ganze Gesellschaft mit modernen Methoden uniformieren kann, ist nun für immer im Gedächtnis der Menschheit gespeichert. Sind wir heute wieder so weit? Schon klagen Philosophen darüber, dass man inzwischen längst nicht mehr so frei reden kann wie noch vor fünfzig Jahren, dass die political correctness alle Bereiche des Lebens ergreift und die Öffentlichkeit gnadenlos über Menschen herfällt, die sagen, was man nicht sagen darf, und die nicht sagen, was man zu sagen hat.
     
    Gerade das aber tun Menschen mit psychischen Störungen. Sie lassen sich nicht uniformieren. Sie erlauben sich verrückte Gedanken. Sie sprengen starre Konventionen. Damit erweisen sie uns allen einen großen Dienst, denn sie halten die humane Temperatur einer Gesellschaft über dem Gefrierpunkt, indem sie ihr nicht nur ein menschliches Gesicht, sondern ganz viele unterschiedliche menschliche Gesichter geben. Psychisch kranke Menschen sind nicht bloß gewöhnlich, sie sind außergewöhnlich. Sie sind nicht bloß ordinär wie unsereins, sondern extraordinär. Nichts Menschliches ist ihnen fremd. Wenn man auf solche Weise erst einmal die unsichtbaren Schranken niedergelegt hat, die immer noch die Normalen von den anderen trennen, wird der Blick frei für diese liebenswürdige und bunte andere Welt, die chaotischer, aber auch fantasievoller, die erschütternder, aber auch existenzieller, leidvoller, aber auch weniger zynisch ist als die glatt lackierte allgemein herrschende Normalität.
     
    Da sind die ehrgeizigen eitlen Erfolgsmenschen, die als Demente zum ersten Mal in ihrem erwachsenen Leben hilfsbedürftig, aber dadurch zugleich auch erstmals wirklich echt und anrührend wirken. Da sind die immer so korrekten und empfindsamen Süchtigen, die ihr Leben lang unermüdlich auf der
Suche sind nach einem Menschen, der sie nicht mehr beschämt, verachtet, verletzt, und die sich im Rausch hinaussehnen aus einer ihrer Empfindsamkeit so rücksichtslos zusetzenden Welt. Da sind die weisen Schizophrenen, die nicht bloß in einer, sondern in ganz vielen fantastischen Welten leben, die sich jeder uniformierenden Zudringlichkeit ihrer Mitmenschen höflich verweigern und ihr Geheimnis niemandem aufdrängen. Die dünnhäutiger sind als andere, aber dadurch auch sensibler für manches, das uns nicht der Rede wert erscheint. Da sind die erschütternd Depressiven, die angstvoll ins existenzielle Nichts starren, die für eine Zeit ihres Lebens unfähig geworden sind, ihren Blick von den alles in Frage stellenden Urerfahrungen des Menschen wegzuwenden, von auswegloser Schuld, von existenzieller Bedrohung, von hoffnungsloser Angst. Über sie hinweg tanzt eine Gesellschaft am Rande des Abgrunds, die blind ist für die wirklich wichtigen Fragen - und diese Blindheit komischerweise für normal hält. Da sind die hinreißenden Maniker, die in ihrer prallen und unmittelbaren Vitalität mitten in eine in leblosen Riten erstarrte Normalgesellschaft hineinplatzen. Die trotz all ihres Größenwahns ganz hemmungslos die Wahrheit sagen, so wie Kinder es manchmal tun, und dadurch plötzlich all die Verlogenheiten der »Normalen« spektakulär entlarven. Da sind die Menschen, die von Lebensereignissen aus der vorgezeichneten Bahn geworfen wurden und die nun angeschlagen und vom Leben gezeichnet ihren wirklichen Weg suchen, der oft durch Leidensphasen hindurch zu größerer Reife und tieferer Gelassenheit führt. Und da sind schließlich all diese schrillen Gestalten, die sich und andere immer wieder nachhaltig beunruhigen, die so gar nicht normal, aber auch nicht eigentlich krank sind. Sie bringen Farbe in ein dahinplätscherndes Leben, es sind die Aufreger, die Übertreiber, die allzu kantigen Gestalten, an denen man sich gelegentlich verletzen kann und an denen man zugleich kaum vorbeikommt. Hat der liebe Gott diese Menschen mit dem gewissen Etwas wirklich geschaffen, damit man sich aufs Paradies noch freuen kann, weil es da keine solchen Psychopathen mehr gibt? Oder ist es nicht vielleicht ganz anders und wir regen uns im Paradies bloß nicht mehr so auf? Vielleicht finden wir das ganz und gar Außergewöhnliche
dann sogar gut.
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