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Irgendwann Holt Es Dich Ein

Irgendwann Holt Es Dich Ein

Titel: Irgendwann Holt Es Dich Ein
Autoren: Jane Hill
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anrufen.
    »Mein Telefon ist kaputt!«, schrie sie. »Ich muss telefonieren. Ich muss die Polizei rufen.« Sie wedelte mit dem Handy, ehe sie erneut auf die Tasten drückte. »Es ist kaputt«, jaulte sie abermals und fing zu schluchzen an, als bräche es ihr das Herz.
    Kate atmete tief durch. Die Stimme der Frau, wohltönend tief, ein wenig rauchig, kam ihr bekannt vor, obgleich sie sie nicht zuordnen konnte. Sie überlegte, ob sie zu ihr gehen und ihr helfen, sie am Arm hochziehen und sie beruhigen solle. Aber es gab etliche andere Leute, die viel näher saßen und teilweise auch netter, freundlicher und vor allem geduldiger wirkten, als Kate sich augenblicklich fühlte. Nicht dass sie nicht helfen wollte, sie konnte nicht, wirklich nicht. Womöglich würde sie die ganze Szene noch unschöner machen.
    Also schlug sie wieder die Zeitung auf und hielt sie sich vors Gesicht, um sich dahinter zu verbergen. Angestrengt konzentrierte sie sich auf die Klatschspalten mit Fotos von Halbprominenten, die aus Limousinen stiegen, während sie sich inständig wünschte, dass die Bahn weiterfuhr und die Frau zu heulen aufhörte. Das Gejammer hatte etwas Durchdringendes, bohrte sich ihr direkt in den Kopf. Kate wollte nach Hause. Sie wollte in einer Badewanne voll duftendem Schaum liegen. Stattdessen hing sie mitten in einem Tunnel in einer U-Bahn fest, zusammen mit einer Betrunkenen, die nur wenige Meter von ihr schluchzend umherkroch. Die Situation wurde immer unangenehmer.
    Kate hörte nun, wie der junge Bärtige versuchte, die Frau zu beschwichtigen, und ihr haarklein erklärte, weshalb ihr Handy im Tunnel nicht funktioniere. Geduldig wie ein Grundschullehrer redete er auf sie ein - sehr viel geduldiger, als es Kate vermocht hätte. Kate krümmte die Schultern und sackte auf ihrem Platz buchstäblich in sich zusammen. Sie war Meister darin, sich klein zu machen. Die Zeitungslektüre gab sie endgültig auf. Sie schloss die Augen und versuchte sich vorzustellen, sie wäre irgendwo anders. Aber das klappte nicht, denn ein neues Geräusch, ein dumpfes Klopfen, zwang sie zurück ins Hier und Jetzt. Vorsichtig linste sie nach vorn, wo die Betrunkene gegen die Waggontüren hämmerte und die Finger in die Gummidichtungen krallte, um die Türen gewaltsam zu öffnen. Wie auf Kommando wandten sich alle anderen Fahrgäste ab, versteckten sich hinter Zeitungen oder wühlten in ihren Aktenkoffern und Handtaschen, als sei ihnen plötzlich eingefallen, dass sie dringend etwas brauchten. Kate spürte, wie die Atmosphäre immer gespannter wurde.
    Und in dem Moment fuhr der Zug genauso unvermittelt wieder an, wie er zuvor gehalten hatte. Das heftige Rucken schleuderte die blonde Frau ein weiteres Mal in die Arme des Mannes im Mantel; sie rappelte sich aber sofort wieder auf und stolperte ein Stück nach vorn. Kate verkrampfte sich. Lieber Gott, mach, dass sie sich nicht auf mich einschießt! Noch während des stummen Stoßgebets kam ihr ein Gedanke, bei dem es sie fröstelte: Vielleicht kenne ich die Frau tatsächlich. Vielleicht kennt die Frau mich und steuert deshalb geradewegs auf mich zu. Oder aber die Frau kennt mich wegen dieser blöden Plakate, auf denen ich letztes Jahr für meine Radiosendung geworben habe. In diversen U-Bahn-Stationen waren die Wände neben den Rolltreppen damit gepflastert gewesen. Das hatte Kate noch gefehlt: ein betrunkener Fan, der sie in der U-Bahn belästigte. Ihre Atmung beschleunigte sich. O Gott, flehte sie im Geiste, ich möchte einfach nur nach Hause!
    Der Zug fuhr in den U-Bahnhof Camden ein. Sobald die Türen aufglitten, fiel die Frau ebenso unelegant aus dem Waggon, wie sie hineingestolpert war. Sie landete auf Knien auf dem Bahnsteig, die Hände vorgestreckt, um den Sturz abzufangen. Kate atmete erleichtert auf, weil sie endlich weg war.
    Dann jedoch - und hinterher hätte sie nicht mehr sagen können, warum sie es getan hatte - drehte Kate sich zu der Frau um, die über den Bahnsteig torkelte. Hatte Kate ein schlechtes Gewissen bekommen? Aus welchen Gründen auch immer, jedenfalls sah sie ihr zum ersten Mal richtig ins Gesicht. Sie sah die angsterfüllten Augen, den starren, glasigen Gesichtsausdruck, und Kate zog sich der Magen zusammen. Gleichzeitig wurde ihr eiskalt.
    Sie kannte die Frau tatsächlich, kannte ihr Gesicht. Es war ein Gesicht aus der Vergangenheit, das ihr einst sehr vertraut gewesen war. Manche Leute kannten es aus dem Fernsehen: als frostige Anwältin Julia Harkness aus der
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