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Instrumentalität der Menschheit

Instrumentalität der Menschheit

Titel: Instrumentalität der Menschheit
Autoren: Cordwainer Smith
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sie geschickt und mit sanften, kräftigen Fingern durch. Sie ging zärtlich, aber auch energisch vor. Sie war seine Frau, aber sie war auch seine wissenschaftliche Mitarbeiterin und seine Kollegin im Sowjetstaat.
    Sie trat zurück und betrachtete ihre Arbeit. Dann schenkte sie ihm ein besonderes Lächeln, eines jener geheimen vergnügten Lächeln, die sie gewöhnlich nur austauschten, wenn sie allein waren. »Ich glaube nicht, daß dir das jeden Tag behagen würde. Wir werden eine Methode finden, in das Gehirn vorzustoßen, ohne diese Nadel zu benutzen. Aber sie wird dir keine Schmerzen zufügen.«
    »Spielt es eine Rolle, wenn es schmerzt?« gab Rogow zurück. »Dies ist die Erfüllung all unserer Arbeit. Hinein damit .«
    Gausgofer schien sich einmischen zu wollen, um an dem Experiment teilzunehmen, aber sie wagte es nicht, Cherpas zu unterbrechen. Cherpas, mit aufmerksam funkelnden Augen, streckte den Arm aus und zog an dem Hebel, der die spitze Nadel mit einer Toleranz von einem zehntel Millimeter an die richtige Stelle senkte.
    Rogow sprach sehr vorsichtig. »Ich habe nur einen milden Stich gefühlt. Du kannst nun den Strom einschalten.«
    Gausgofer konnte sich nicht mehr beherrschen. Schüchtern wandte sie sich an Cherpas. »Darf ich den Strom einschalten?«
    Cherpas nickte. Gauck beobachtete. Rogow wartete. Gausgofer legte den Kippschalter um.
    Der Strom war eingeschaltet.
    Mit einer ungeduldigen Handbewegung scheuchte Anastasia Cherpas die Laborgehilfen zur anderen Seite des Raumes. Zwei oder drei von ihnen hatten ihre Arbeit unterbrochen und starrten Rogow an, starrten ihn an wie dumme Schafe. Sie wirkten verlegen und drängten sich dann zu einer weißbekittelten Herde an der gegenüberliegenden Wand des Laboratoriums zusammen. Der feuchte Maiwind strich durch den Raum. Über allem lag der Geruch von Wald und Laub.
    Die drei beobachteten Rogow.
    Rogows Antlitz veränderte sich. Es wurde rot. Sein Atem war so laut und schwer, daß man ihn noch aus einer Entfernung von mehreren Metern wahrnehmen konnte. Cherpas fiel vor ihm auf die Knie, die Augenbrauen in stummer Wißbegierde gewölbt.
    Rogow wagte nicht zu nicken, nicht mit der Nadel in seinem Gehirn. Mit roten Lippen, mit heiserer und schwerfälliger Stimme sagte er: »Hört – noch – nicht – auf.«
    Rogow selbst wußte nicht, was geschah. Er meinte, ein amerikanisches Zimmer oder ein russisches Zimmer oder einen Raum in den tropischen Zonen zu sehen. Er glaubte, Palmbäume zu erkennen – oder Wälder oder Tische. Er meinte, Gewehre oder Gebäude zu erblicken, Waschsäle oder Betten, Krankenhäuser, Bungalows, Kirchen. Er glaubte, mit den Augen eines Kindes zu sehen, einer Frau, eines Mannes, eines Soldaten, eines Philosophen, eines Sklaven, eines Arbeiters, eines Wilden, eines Gläubigen, eines Kommunisten, eines Reaktionärs, eines Regierenden, eines Polizisten. Er meinte, Stimmen zu hören; vielleicht Englisch oder Französisch oder Russisch, Swahili, Hindu, Malaysisch, Chinesisch, Ukrainisch, Armenisch, Türkisch, Griechisch. Er wußte es nicht.
    Etwas Seltsames geschah.
    Ihm schien, er hätte die Welt hinter sich gelassen, sogar die Zeit überwunden. Die Stunden und Jahrhunderte schrumpften wie die Entfernungen, und die Maschine, unerprobt, wie sie war, griff hinaus nach dem mächtigsten Signal, das je ein Menschengeschlecht abgegeben hatte. Rogow wußte es nicht, aber die Maschine hatte die Zeit besiegt.
    Die Maschine erreichte den Tänzer, den menschlichen Herausforderer und das Tanzfestival jenes Jahres, das nicht als das Jahr 13 582 bezeichnet wurde, es aber hätte sein können.
    Vor Rogows Augen zitterten und flatterten die goldene Gestalt und die goldenen Stufen in einem Ritual, das tausendfach überwältigender war als Hypnose. Der Rhythmus bedeutete ihm nichts und gleichzeitig alles. Er war russisch, er war kommunistisch. Er war das Leben – in der Tat war es seine Seele, die sich da vor seinen Augen zeigte.
    Eine Sekunde lang, die letzte Sekunde seines normalen Lebens, blickte er durch Augen aus Fleisch und Blut und beobachtete die verhärmte Frau, die er einst für schön gehalten hatte. Er sah Anastasia Cherpas an, und sie ließ ihn kalt.
    Seine Blicke konzentrierten sich wieder auf das Bild des Tanzes, auf diese Frau, diese Gesten, diesen Tanz!
    Dann begann er zu hören – Musik, die einen Tschaikowsky zum Weinen gebracht hätte, Orchester, bei deren Klang Schostakowitsch oder Khatchaturian für immer verstummt wären, so sehr war
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