Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Inspektor Jury steht im Regen

Inspektor Jury steht im Regen

Titel: Inspektor Jury steht im Regen
Autoren: Martha Grimes
Vom Netzwerk:
verbrauchen. Cyril sprang auf den Fenstersims und kauerte sich nieder, damit er nach den fallenden Schneeflocken schnappen konnte.
    Jury ließ seinen Blick desinteressiert durchs Büro schweifen. Abgesehen von einem kleinen Berg von Weihnachtsgeschenken, der sich auf der Kunstledercouch erhob, hatte sich nichts verändert. Jury zog eine frische Schachtel Player’s aus der Tasche. Cyril, dem es gelungen war, sich durch den Spalt zu quetschen und auf die äußere Fensterbank zu gelangen, hatte die gewagte Akrobatik nun satt, machte einen Rückzieher und setzte zu einem perfekten Kopfsprung auf den Fußboden an. Sein Spiel mit dem Tod wurde Jahr für Jahr verwegener. Als die äußere Bürotür aufging, spitzte er die Ohren, schlich über den Teppich und ließ sich unter knisternden Geräuschen hinter der Geschenkepyramide auf der Couch nieder.
    Chief Superintendent A. E. Racer bedachte Fiona Clingmore mit seinen üblichen spitzen Bemerkungen, ehe er hereintrat und einen mißtrauischen Blick auf den Geschenkehaufen warf, als ob Jury in seiner Abwesenheit vielleicht eines geklaut haben könnte.
    «Frohe Weihnachten», sagte Jury liebenswürdig, während Racer mehrere Aktendeckel auf seinen Tisch legte und sich hinsetzte.
    «Nicht für mich», sagte er und wies auf die zu bearbeitenden Akten, die er eben hereingeschleppt hatte. Die Arbeit, wußte Jury, mußten dann andere machen. «Wie kommen Sie im Fall Childess voran?» Ohne die Antwort abzuwarten, fuhr Racer fort: «Könnten Sie nicht wenigstens der Presse das Maul stopfen?»
    «Kann das überhaupt jemand? Ich habe keinerlei Kommentar abgegeben.»
    «Bei diesem Käseblatt brauchen Sie das auch nicht.» Er hielt Jury ein Revolverblatt unter die Nase und las dann vor: «‹Mit dem eigenen Schal erdrosselt.› Zum Teufel. Jeder Londoner Schurke – Vergewaltiger, Räuber – hat jetzt eine hübsche, saubere Gebrauchsanweisung.»
    «Na ja, vielleicht ist es ja auch eine Warnung für die Frauen, ihre Schals nicht über die Schulter zu werfen.»
    «Bißchen spät dafür, was?»
    Als hätte Jury es versäumt, die Warnung auszugeben, als hätte er die Zeitungen verständigt.
    Racer verschränkte die Arme, die in so etwas wie Kaschmir vom Maßschneider steckten, und beugte sich zu Jury vor. «Was Sie angeht, Jury …»
    Es war ein Ritual, genauso wie Cyrils Erstürmung der Zinnen. Was Sie angeht …
    «… glauben Sie, daß Sie sich diesmal mit polizeilicher Unterstützung begnügen können? Statt Ihre Freunde als Hilfspolizisten anzuheuern?» Für Racer war Melrose Plants Rolle in der Hampshire-Sache immer noch eine brandaktuelle Geschichte, auf der sich herumreiten ließ. «Ist Ihnen eigentlich klar, daß ich mir deswegen vom Polizeichef immer noch herbe Kritik anhören muß?»
    «Er hat mir das Leben gerettet.»
    Da er hierin nichts entdeckte, das eine Antwort verdiente, ging Racer dazu über, die Gewässer von Jurys Karriere zu erkunden, wobei er so weit wie möglich im Seichten verharrte. Das Thema Karriere war vermutlich bei Racers Zusammenkunft mit dem stellvertretenden Commissioner zur Sprache gekommen und würde immer wieder hochkommen, so wie jetzt. «Hab gehört, Hodges geht in Pension. Hat sich eine tolle Zeit dafür ausgesucht, muß ich schon sagen.»
    Racer erblickte in dieser Entscheidung von Divisional Commander Hodges, die ihm höchst kapriziös erschien, natürlich einen persönlichen Affront gegen die gesamten Polizeikräfte des Großraums London. Daß damit einem Bezirk nun ein Divisional Commander fehlte, umging er lieber. Für Racer entstünde nämlich ein echtes Dilemma, falls Jury befördert würde. Jury um sich zu haben, war zwar einerseits so, als besitze man einen Spiegel, in dem aus dem Nichts ein Gesicht erschien und einen daran erinnerte, daß es immer noch einen Schöneren gab; andererseits hätte die Versetzung Jurys auch die Entfernung seines Sachverstands bedeutet, der ja auch ein günstiges Licht auf Racer warf.
    Er sprach noch immer über den Nordbezirk. «Da würde auch ich für nichts garantieren wollen, wo das jetzt auch noch nach Brixton übergreift. Krawalle, etwas anderes kann man in diesem undankbaren Job auch nicht erwarten.» Er sprach weiter …
    Jury schaltete ab, wandte seine Aufmerksamkeit der Geschenkpyramide zu, die sich leicht bewegt hatte, und fragte sich in einer momentanen Anwandlung von Neid, wie entschlossen Cyril wohl sei, die feindlichen Kräfte zu überlisten. Racer stieg inzwischen gerade Jurys Karriereleiter hinunter
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher