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Inspektor Jury schläft außer Haus

Titel: Inspektor Jury schläft außer Haus
Autoren: Martha Grimes
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Fassung gebracht. Melrose hatte ein paar Jahre zuvor seine Titel abgelegt, nachdem er an mehreren Sitzungen des Oberhauses teilgenommen hatte. Auf diese Enthüllung hin hätte Ruthven sich beinahe zu Bett legen müssen. Melrose hatte seinen Butler eines Morgens beim Frühstück davon unterrichtet – so beiläufig, als würde er ihm seinen Teller reichen, um sich noch etwas von dem Räucherlachs geben zu lassen: Ach, was ich noch sagen wollte, Ruthven, «Eure Lordschaft» entfällt in Zukunft. Und Ruthven stand wie versteinert da, sein Gesicht zeigte nicht die geringste Regung. Ich fand es einfach unpassend, einen Job zu haben und gleichzeitig diesen lästigen Titel zu führen. Ruthven hatte sich nur kurz verbeugt und ihm die Silberplatte mit den von prallen Würstchen umkränzten Eiern hingehalten. Ich habe auch nie daran gedacht, Mitglied des Oberhauses zu bleiben. Eine tödlich langweilige Angelegenheit. Als ein Würstchen auf den Teller plumpste, bat Ruthven, sich zurückziehen zu dürfen, da er sich etwas unwohl fühle.

    Lady Ardry hatte die Neuigkeit mit sehr viel gemischteren Gefühlen aufgenommen. Auf der Plusseite verzeichnete sie die Tatsache, daß sie nun endlich Melrose etwas voraushatte: Jetzt hatte sie einen Titel, während er keinen hatte, etwas, was ihr Herz höher schlagen ließ. Auf der Minusseite registrierte sie das Unenglische seines Verhaltens: Wie konnte er es wagen, etwas wegzuwerfen, was durch Generationen hindurch kultiviert worden war? Außerdem pflegte Lady Ardry anläßlich der ziemlich seltenen Besuche von entfernten Verwandten aus Amerika voller Stolz ihren «Familienbesitz» vorzuführen, und Melrose war ein Teil davon – «Mein Neffe, der achte Earl von Caverness und zwölfte Viscount Ardry» – worauf sie ihn anschauten, als wäre er eines der objets d’art. Agatha befand sich in einer richtigen Zwickmühle: einerseits, welch ein Vergnügen, ihren Neffen als «einen Bürgerlichen» betrachten zu können, andererseits hatte sie aber das Gefühl, sie würde im Beisein ihrer Verwandten die hübsche rosa Decke wegziehen und die Entdeckung machen, daß das Baby plötzlich Warzen bekommen hatte.
    Der Titel war also etwas, was sie ihm voraushatte. Aber es war auch das einzige. Er war zwar nicht besonders reich, aber doch reich genug; nicht besonders gut aussehend, aber doch gutaussehend genug; nicht besonders groß, aber doch groß genug. Und wenn er seine seriöse Goldrandbrille abnahm, funkelten einen erstaunlich grüne Augen an. Seine Arbeit als «Job» zu bezeichnen war auch etwas untertrieben. Melrose hatte nämlich einen Lehrstuhl an der Universität von London, sein Spezialgebiet war die französische Poesie der Romantik. Vier Monate im Jahr lehrte er, um in den restlichen acht von sich reden zu machen.
    Er war also auch noch Professor Melrose Plant. Lady Ardry erschauerte bei dem Gedanken. Er war wie eine Katze mit neun Leben oder wie der Mann mit der eisernen Maske oder wie Scarlet Pimpernell: ein Mann mit mehreren Persönlichkeiten, die er wie Visitenkarten auf einem silbernen Tablett ablegen konnte.
    Und er hatte noch ein anderes Laster, das ihr endloses Leid bereitete: er war so verdammt clever.
    Plant konnte das Kreuzworträtsel der Times in weniger als fünfzehn Minuten lösen. Einmal hatte sie ihn zu einem Kreuzworträtsel-Duell aufgefordert. Unglücklicherweise verbrachte Lady Ardry eine halbe Stunde nur damit, sich über oben und unten klar zu werden; verärgert gab sie deshalb auf und erklärte, es sei kindisch, eine pure Zeitverschwendung. Aber Melrose lebte ja auch nicht von seiner Hände Arbeit. Sich selbst sah Lady Ardry in der Rolle eines unglückseligen Aschenbrödels, an dem alle Bälle vorbeirauschten und dessen Schicksal es war, die Asche der ganzen Welt hinauszutragen, damit die andern (Leute wie Melrose) die Nächte durchtanzen und morgens in Bettüchern aus Satin aufwachen konnten, ihr Frühstück und das Times -Kreuzworträtsel neben dem Bett.
    Plant seufzte, als er mißvergnügt vor seinem Kamin saß. Jetzt waren ihnen auch noch diese bestialischen Morde beschert worden, und seine Tante würde ihren ganzen, nicht existenten Scharfsinn auf ihre Auflösung verwenden. Und ihn in den Strudel mit hineinziehen, einfach nur, weil er sich in der Nähe befand. Aber wahrscheinlich steckte er sowieso schon drin, einfach weil er gestern morgen in der Hammerschmiede gewesen war. Er hatte jedoch nicht die geringste Lust, sich ständig über dieses Thema auslassen zu
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