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Inspektor Jury lichtet den Nebel

Inspektor Jury lichtet den Nebel

Titel: Inspektor Jury lichtet den Nebel
Autoren: Martha Grimes
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standen ihr in den Augen. Mit einem Daimler hatte man ihren Vater zum Friedhof gefahren. Es war ihr, als sei alles erst gestern gewesen, plötzlich fühlte sie sich wieder, als stände sie vor dem Grab. Und die Trauernden – verschleierte Frauen, Männer in schwarzen Anzügen. Ihr Onkel war der einzige Lichtblick in einer schwarz verhängten Welt gewesen.
    Der Daimler von damals war 1982 zugelassen worden. Jessie errötete bei dem Gedanken, daß sie damals auf die Zulassungsnummer des Leichenwagens geachtet hatte. Und dann erstarrte sie.
    Sie blätterte zurück. Morris Minor, schwarz. Jess konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. So mußte sich ein Tier fühlen, vielleicht sogar Henry. Das Denken hört auf, alles geht über die Sinne. Man sieht, hört, fühlt, erschrickt …
    Die Küchentür quietschte, es war ganz deutlich. Sara war blaß geworden, wie Jessie starrte sie reglos in Richtung Tür, die sich langsam öffnete.
    Auf der Schwelle stand Molly Singer in ihrem silbrigen Cape, ihr Gesicht kalkweiß, das Haar schwarz wie die Nacht. Sie sah furchtbar aus, wie ein Gespenst – und sie hielt eine Pistole in der schwarz behandschuhten Hand.
    Trotz all dem drängte sich Jessie ein ganz anderes Bild auf, sie sah einen schwarzen Daimler und einen Morris Minor. Einen ganz gewöhnlichen.
    Sie starrte erst Molly Singer an und dann auf den Küchentisch, auf dem ein ganzer Brotlaib in Scheiben geschnitten lag.
    Wie war Sara Millars Auto wohl auf die Beerdigung ihres Vaters gekommen?
     
     
    F ÜNF M EILEN VON A SHCROFT ENTFERNT , im «Verirrten Wandersmann», war Macalvie einfach nicht davon abzubringen, daß Robert Ashcrofts Geschichte über die Einstellungsgespräche höchst verdächtig war.
    Melrose Plant trank einen Old Peculier und rauchte. Auch er dachte über Robert Ashcrofts Einstellungsgespräche nach.
    «Er könnte die Vorstellung doch mit der Absicht verlassen haben zu beweisen, daß er wirklich in London war. Wer würde aus einer Vorstellung mit Vanessa Redgrave rausgehen?» gab Macalvie zu bedenken.
    Wiggins sagte: «Die Garderobenfrau hat ihn auf dem Foto sofort erkannt. Kein Glück bei den Autohändlern. Aber wir hatten ja auch nur ein paar Stunden.» Er machte demonstrativ eine Tüte Bonbons auf, anscheinend wollte er den Divisional Commander damit um jeden Preis darauf aufmerksam machen, daß er wieder rauchte.
    «Und warum hat er nicht zu Hause angerufen? Ist fünf Tage weg und kein Sterbenswörtchen an seine heißgeliebte Nichte», fuhr Macalvie fort und blickte Plant und Jury fragend an, da ihm keiner von beiden widersprach.
    «Ein Zufall, daß die Nachricht an Jessica buchstäblich unter den Teppich gekehrt wurde. Ein Zufall mit unseligen Folgen, leider. War das bei Angel Clare nicht auch so ähnlich?» fragte Jury.
    «Wer zum Teufel ist Angel Clare?» fragte Macalvie.
    Melrose Plant schaute ihn triumphierend an. «Commander, wenn Sie eine Hauslehrerin einstellen wollten, würden Sie sich doch davon überzeugen, daß sie sehr belesen ist, oder?»
    Macalvie schenkte ihm ein ganz besonders bezauberndes Macalvie-Lächeln.
    «Falls Sie einen Hauslehrer suchen, Plant, ich fürchte sehr, ich würde Ihren Anforderungen nicht gerecht.»
    «Aber ja doch, Superintendent. Jury hat mir erzählt, daß die Präraffaeliten für Sie gute Bekannte sind. Und Jane Eyre ebenso. Und was ist mit Hester und Chillingworth?»
    Macalvie nahm sich eine Zigarre und sah Plant an, als sei dieser plötzlich verrückt geworden. «Was zum Teufel ist das? Ein Literaturquiz?»
    «So ähnlich.»
    «Also gut, Der scharlachrote Buchstabe. Kann mich auch nicht erschüttern.»
    Plant zuckte mit den Schultern. «Ich meine ja nur, daß jeder Hauslehrer –»
    «Tess von d’Urbervilles» , sagte Jury wie geistesabwesend. Er war sehr blaß und stand auf. «Mein Gott, da überlegen wir hin und her und vergessen vollkommen –»
    Jury rannte zum Telefon. Elvis sang gerade «Heartbreak Hotel».
    Es war eines der letzten Lieder, die er gesungen hatte.
     
     
    J ESS HATTE GEDACHT , Molly Singer redete mit ihr, als sie den Namen zum erstenmal sagte. Aber dann sagte sie es noch einmal. «Laß sie los, Tess.»
    Jess hatte Angst. Der Druck des Arms, der sie an den Schultern gepackt hatte, wurde stärker, und das Messer saß ihr an der Kehle. Sara – aber war das überhaupt ihr richtiger Name? – flüsterte: «Raus! Wer sind Sie?»
    «Ich bin Mary!»
    Der Arm glitt höher, und Jessica rang nach Luft. Sie wollte schreien, aber es ging nicht. Wo, wo
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