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Inselzirkus

Titel: Inselzirkus
Autoren: Gisa Pauly
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deutscher Aufklärung gemeint war, und erst recht den Einwand heruntergeschluckt, dass man für eine Komparsenrolle sicher nicht ein komplettes Theaterstück auswendig lernen müsse.
    Alina Olsted vertrat jedoch die Meinung, dass eine derart intensive Beschäftigung mit einem Theaterstück nur von Nutzen sein konnte, und da die junge Referendarin angeblich aussah wie Cindy Crawford, waren ihre Ansichten bei Carolin ebenso populär wie das weltbekannte Model.
    Carolin hatte sofort eine Modezeitschrift hervorgeholt und sie ihrer Nonna hingehalten. »Cindy Crawford war sogar mal mit Richard Gere verheiratet.«
    Mamma Carlotta gab ihrer Enkelin recht, dass Cindy Crawford eine außergewöhnliche Frau sein musste, wenn sie diesen Mann erobert hatte. Und dass eine Frau, die ihr ähnlich war, auch ähnlich außergewöhnlich sein musste, stand außer Frage.
    Â»Den Leberfleck auf der Oberlippe hat Frau Olsted auch«, erklärte Carolin. »Und sie ist beinahe so groß und so schlank wie Cindy Crawford. Nur ihre Haare sind dunkler.«
    Schon am nächsten Tag hatte Mamma Carlotta Carolins Lehrerin kennengelernt und festgestellt, dass der Leberfleck auf der Oberlippe fast das Einzige war, was an Cindy Crawford erinnerte. Aber selbst wenn sie keine Frau war, für die Richard Gere eine Schwäche entwickeln würde, war sie doch sehr attraktiv.
    Mamma Carlotta wandte sich ab und schob die Friedhofspforte auf. Kaum hatte sie sie hinter sich geschlossen, breitete sich die Stille vor ihr aus. Dieser Ort war auch dann ruhig, wenn um ihn herum der Lärm brandete. Immer wenn Carlotta Capella zum Grab ihrer Tochter ging, war diese Stille in ihr. Dann schrie nicht mal mehr die Frage in ihrem Kopf, warum dieser unaufmerksame Fahrer ausgerechnet in dem Moment die Gewalt über seinen Lkw verloren hatte, als Lucia ihm entgegengekommen war.
    Der Wenningstedter Friedhof besaß kein Gräberfeld, auf dem sich ein Grab ans nächste anschloss. Nein, dieser Friedhof war ein Garten, mit einer großen, von Bäumen bestandenen Grünfläche. Die Grabsteine und Holzkreuze wirkten nicht so wuchtig, weil es vor ihnen kein Rechteck gab, das die Größe und Form eines Sarges hatte, sondern nur ein kleines Rund, das mit Blumen bestanden war. Für Mamma Carlotta war es ein großer Trost, durch diesen Garten zu gehen, der für die Toten angelegt worden war. Und als sie vor dem weißen Stein stand, der Lucias Namen trug, konnte sie ihn sogar anlächeln.
    Unhörbar erzählte sie ihrer Tochter, dass Carolin und Felix etwas ungeheuer Interessantes vorhatten. »Du hättest es ihnen doch auch erlaubt, piccola mia? Enrico ist ja immer so … so …« Ihr fiel die Vokabel für »altmodisch« nicht ein, aber Lucia würde schon verstehen, was sie meinte. Und sie würde sich da oben im Himmel auch nicht darüber wundern, dass ihre Mutter vor ihrem Grab in Gedanken deutsch mit ihr sprach. Mamma Carlotta wusste, dass Lucia eine Sylterin geworden war, dass sie hier ihre Heimat gefunden hatte und glücklich gewesen war. Wenn sie in Umbrien mit Lucia Zwiesprache hielt, geschah das immer in ihrer Muttersprache, auf Sylt jedoch redete Mamma Carlotta mit ihrer Tochter deutsch.
    Sie zupfte lächelnd ein paar welke Blüten von den weißen Primeln und legte die kleinen hellen Kiesel zurück, die der Wind auf den Weg geweht hatte. Sie war Erik dankbar, dass er prunkende Farben von Lucias Grab fernhielt. Sie hatte ihr Leben lang das Helle, Klare verkörpert, für ihre Eltern und Geschwister und auch für Erik und die Kinder. Das strahlende Weiß passte sehr gut zu ihr.
    Carlotta suchte ein Papiertaschentuch aus ihrer Jackentasche, wischte den hellen Findling sauber, auf dem Lucias Name stand, dann richtete sie sich auf und betrachtete das Grab, wie sie früher ihre Tochter betrachtet hatte, wenn sie sich für einen Tanzabend zurechtgemacht hatte. »Nun werde ich mal sehen, ob die Kinder Erfolg haben bei diesem … Casting. Sie wollten nicht, dass ich sie begleite, aber glaubst du, dass sie etwas dagegen haben, wenn ich mal schaue, was sich dort so tut? Ganz unauffällig. Was meinst du?« Sie wartete eine Weile, dann war sie sicher, Lucias Zustimmung zu spüren. »Nur ein kurzer Blick! Das wird schon nicht so schlimm sein!«
    Bevor sie sich abwandte, machte sie ihre Tochter noch auf etwas aufmerksam, was sie am Grab ihres
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