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Inselzirkus

Titel: Inselzirkus
Autoren: Gisa Pauly
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Bruce Markreiter eine Gastrolle übernehmen würde, beklagte sich Mamma Carlottas ältester Sohn Guido immer öfter, weil das Essen abgekürzt wurde, nur noch selten Tiramisù auf den Tisch kam und der Espresso vor den Fernseher getragen wurde. Dass der Handlungsstrang, in dem Markreiter eine tragende Rolle spielte, auf Sylt gedreht wurde, hatte Mamma Carlotta leider vor ihrer Abreise nicht mehr mitbekommen. Sonst wäre ihre gesamte Nachbarschaft längst darüber informiert, dass Carlotta Capella in den Flieger nach Hamburg gestiegen war, um direkt im Filmgeschäft zu landen.
    Aber das hatte auch etwas Gutes. Die Überraschung würde umso größer sein, wenn sie mit der überwältigenden Neuigkeit nach Umbrien zurückkehrte, dass sie tiefe Einblicke in »Liebe, Leid und Leidenschaft« gewonnen hatte. Demnächst würde ihr ganzes Dorf die Serie im Fernsehen verfolgen. Erst recht, wenn Carlottas Enkelkinder auf dem Bildschirm zu sehen sein würden. Den Pfarrer ihres Dorfes würde sie bitten, den Fernsehapparat in den Gemeindesaal zu stellen, wie er es bei den Fußballweltmeisterschaften tat, damit Mamma Carlotta im Kreise sämtlicher Dorfbewohner den denkwürdigen Moment genießen konnte, wenn ihre Enkel sich als Komparsen einem Millionenpublikum präsentierten.
    Â»Una comparsa?« Sie hatte sofort verstanden, worum es ging, als Carolin ihr direkt nach ihrer Ankunft auf Sylt von der Chance berichtete, bei »Liebe, Leid und Leidenschaft« mitzuwirken. »Signora Calzolaio – ihr wisst doch, die Frau des Apothekers – war auch mal una comparsa. Im Theater von Modena. Zwanzig Jahre ist das her, aber sie redet heute noch davon. Dabei hatte sie nicht mehr zu tun, als schreiend von der Bühne zu laufen, nachdem der Hauptdarsteller des Dramas erstochen worden war. Aber wenn sie davon redet, spricht sie immer von ihrer Zeit am Theater. Als hätte sie eine große Karriere abgebrochen, indem sie in unser Dorf kam, um den Apotheker zu heiraten.« Mamma Carlotta hatte ihren Schwiegersohn streng angesehen. »Signora Calzolaio hält ihrem Mann bei jedem Ehekrach vor, sie habe seinetwegen auf eine Theaterkarriere verzichtet. Willst du dir später auch jahrelang vorhalten lassen, dass du die Kinder um eine interessante Erfahrung gebracht hast?«
    Es war Erik anzusehen, dass er das nicht wollte. Und irgendwann hatte er wie erwartet nachgegeben. »Du bist wie Lucia!«, hatte er gesagt und versucht, verdrießlich auszusehen. Aber Mamma Carlotta wusste genau: Immer wenn er seine Schwiegermutter mit seiner verstorbenen Frau verglich, war sein Schimpfen nur die äußere Verkleidung eines Gefühls, das er nicht zeigen wollte.
    Sie stellte ihr Fahrrad vor der Friedhofspforte ab, blickte den Kindern nach und versuchte, nicht gekränkt zu sein, weil die beiden ihr zum Abschied nicht nachwinkten. Anscheinend wollten sie ihren Klassenkameraden weismachen, dass sich ihre Großmutter rein zufällig in der Nähe aufhielt und nichts mit dem zu tun hatte, was seit Tagen auf dem Schulhof das Gesprächsthema Nummer eins war. Und ihre Nonna wollten sie damit wohl an ihr Versprechen erinnern, dass sie nur ein kleines Stück mit ihnen zusammen fahren würde und dann einen Besuch an Lucias Grab machen wollte.
    Mamma Carlotta blieb noch eine Weile vor dem Friedhofstor stehen und sah dem Strom der Fahrradfahrer nach. So viele? In der Zeitung war die Rede von einigen Komparsen gewesen, die die Produktionsfirma brauchte. Viele der jungen Leute würden vermutlich unverrichteter Dinge zurückkehren müssen. Mamma Carlotta blutete das Herz, wenn sie daran dachte, dass man Carolin und Felix abweisen könnte.
    Besonders Carolin würde leiden, die sich seit Tagen mit einem Theaterstück auf diesen Tag vorbereitete, das »Minna von Barnhelm« hieß. Wenn sie deklamierte: »Was redest du von Stürmen, da ich bloß herkomme, die Haltung der Kapitulation zu fordern?«, sah Mamma Carlotta nur fragend in das schwärmerische Gesicht ihrer Enkelin und wagte nicht, sich zu erkundigen, was der Dichter, von dem sie noch nie gehört hatte, damit wohl ausdrücken wollte. Aber anscheinend war dieser Gotthold Ephraim Lessing über jeden Zweifel erhaben, denn Frau Olsted, Carolins neue Deutschlehrerin, hatte ihn den wichtigsten Dichter der deutschen Aufklärung genannt. Mamma Carlotta hatte nicht einmal zu fragen gewagt, was mit
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