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Ins Leben zurückgerufen

Ins Leben zurückgerufen

Titel: Ins Leben zurückgerufen
Autoren: Reginald Hill
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weiter auf den Leib zu rücken, begann er, Kleidung von den Bügeln zu reißen und sie dem anderen wie Palmwedel vor die Füße zu werfen. Doch der walzte die robusten Tweedjacketts, die elegante Abendkleidung, die Wolle, Baumwolle und feinste Seide unerbittlich platt, bis ihn nur noch wenige Zentimeter von dem Blonden trennten.
    Eine Hand so schwer wie Blei fiel auf Sir Ralphs Schulter. Im gleichen Moment schienen alles Leben und alle Energie aus dessen Gliedern zu weichen. Der angespannte Körper erschlaffte, als sei er durch die Berührung in Narkose versetzt.
    »Schön brav mit mir kommen«, sagte der Stämmige.
    Am Fuß der Treppe wartete ein älterer grauhaariger Mann mit kantigem Kinn.
    »Gut gemacht, mein Junge«, sagte er.
    »Soll ich ihm Handschellen anlegen, Sir?«
    »Soweit werden wir wohl nicht gehen müssen, doch wenn er noch mehr Ärger machen sollte, könntest du ihm eine Ohrfeige verpassen.«
    Der Stämmige lachte. Die alten Witze waren die besten, besonders wenn der Chef sie machte.
    Draußen stand die Sonne tief, aber es war noch warm. Die drei Polizeiautos auf dem weißen Kies unterhalb der Terrasse warfen lange Schatten. Im hintersten war das blasse Gesicht einer Frau zu erkennen, die eingekeilt zwischen zwei Polizistinnen saß. Sie stierte vor sich hin, leblos wie eine Totenmaske.
    Uniformierte Beamte übernahmen den Blonden und führten ihn von der Terrasse hinunter zum zweiten Wagen. Vor dem Einsteigen wandte er sich noch einmal um und schaute zurück, nicht zu den Gestalten über ihm auf der Terrasse, sondern auf das Haus und musterte langsam die Fassade in ihrer ganzen Länge. Dann ließ er sich ohne Gegenwehr auf den Rücksitz schieben.
    Auf der Terrasse sagte der Mann mit dem kantigen Kinn ein paar Worte zu seinem stämmigen Untergebenen, bevor er leichtfüßig die Stufen hinuntereilte und in das Auto an der Spitze des Konvois einstieg. Das Fenster war offen, und er streckte seinen Arm heraus wie ein Zugchef bei den Vorbereitungen zur Abfahrt seines Zugs. Dann ließ er den Arm nach vorne fallen, die Wagen setzten sich knirschend in Bewegung, und gleichzeitig begann es zu lärmen und zu blinken.
    Der Stämmige stand auf der Terrasse, breit lächelnd, bis er die Lichter zum letzten Mal aufblitzen sah und auch die Sirenen nicht mehr hören konnte.
    Dann drehte er der Sonne den Rücken zu und ging langsam zurück ins Haus.

Zwei
    »Könnt Ihr ein bißchen mehr Helligkeit ertragen?«
    »Ich muß wohl, wenn Ihr sie hereinlaßt.«
    L ampen.
    Einige strahlen sie dauernd an, heiß und grell. Andere bewegen sich auf sie zu wie Schnee und zerschmelzen vor der Berührung.
    Eine flache Plattform, eine Stufe hinauf.
    Sie steigt sie hoch, hält inne, schwankt, vernimmt das Innehalten und Schwanken im Atem ihrer Zuschauer.
    Sie denkt: So muß es für Mick gewesen sein, beim ersten Schritt zum Schafott.
     
    Eine Hand hält sie fest. Nicht die Hand des Henkers, sondern die ihres Retters Jay, ihres Vetters Jay Waggs. Nur, als Retter empfindet sie ihn noch nicht. Sie drückt ihre alte, ledergebundene Bibel an die magere Brust. Er lächelt ihr zu, ein warmes Lächeln in einem jungen Gesicht. Es löst eine Erinnerung an längst vergangene Zeiten aus, an ferne Orte. Er drängt sie vorwärts.
    Da steht ein Stuhl. Sie sitzt. Zu ihrer Linken ein Krug mit Wasser und ein Glas. Zu ihrer Rechten eine kleine Vase, aus der ein Fresienzweig seine Ruhmeshand hebt. Vor ihr ein Sträußchen Mikrophone, das ihr zwar Schutz vor den Blitzlichtern und den forschenden Blicken gewährt, doch nicht vor den Fernsehkameras, die jede ihrer Bewegungen festhalten, ihr folgen wie Gewehre auf einem Gefängniswachturm.
    Mr. Jacklin spricht. Ihr Anwalt. Ein kleiner grauer Mann, der so vertrocknet aussieht, als würde er beim geringsten Druck zu Staub zerfallen. Doch wehe ein Funke Ungerechtigkeit fällt in diese Dürre, und schon lodert ein Feuer auf.
    Er sagt: »Lassen Sie mich die Situation rekapitulieren, falls hier jemand zufällig von einem anderen Stern hereingeschneit sein sollte. Meine Mandantin, Miss Cecily Kohler, wurde 1963 des Mordes an ihrer Arbeitgeberin, Mrs. Pamela Westropp, angeklagt. Sie wurde für schuldig befunden und zum Tode verurteilt. Das Urteil wurde später in eine lebenslängliche Haftstrafe umgewandelt. Fast unmittelbar nach dem Prozeß wurden Zweifel an dem Urteil laut, doch aufgrund verschiedener Umstände war eine Wiederaufnahme des Verfahrens nicht möglich, bis sich vor zwei Jahren Jay Waggs für das
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