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Ins Eis: Roman (German Edition)

Ins Eis: Roman (German Edition)

Titel: Ins Eis: Roman (German Edition)
Autoren: Karen Nieberg
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Hindernis zwischen sich und den Eisbären gebracht zu haben. Kirsten fiel einige Schritte zurück, taumelnd in den tieferen Schneewehen, doch Tim zerrte sie weiter. Linker und rechter Hand markierten die Bergfüße den Beginn des Seitentals.
    »Nicht anhalten«, drängte er, und dann: »Er kann uns noch riechen.«
    Er wollte ihr Jonas abnehmen, aber sie ließ es nicht zu. Der Junge hatte sein Gesicht in den Kragen ihres Mantels vergraben, er war so still, dass sie erst nach einigen Minuten bemerkte, wie ihre Jacke am Hals feucht wurde. Vor ihnen schälten sich die Umrisse der Schneemobile aus der Dämmerung. Der Mund des Mineneingangs weiter oben am Hang war bereits von der Dunkelheit verschluckt. Kirsten presste ihre Stirn gegen Jonas’ Ohr. »Wir schaffen es!«, flüsterte sie. »Gleich sind wir in Sicherheit.«
    Jonas bewegte sich, drehte den Kopf. Ein kurzer Blick über die Schulter hin zu den Schneemobilen und dem regungslosen Leib seines Großvaters, dann versteckte er sich sofort wieder an Kirstens Hals. Es war unheimlich, wie still er war, während die Tränen sein Gesicht nässten und auf den Wimpern froren. Er schluchzte nicht, er zitterte nicht. Tim rannte los, die letzten Meter hinüber zu den Motorschlitten, wo er Fredriks Gewehr an sich riss, es sofort entsicherte. Doch hinter Kirsten und Jonas blieb die Landschaft leer. Kirstens Arme begannen, vor Erschöpfung unkontrolliert zu zittern. Sie drückte ihren Sohn bloß noch näher an sich.
    »Hat der Eisbär auch Papa gefressen?«, wisperte Jonas.
    Sie schüttelte heftig den Kopf. »Nein, Papa ist nicht gefressen worden. Er, er ist nur eingeschlafen. So wie Opa. Auf dem Schnee. Und dann ist er im Schlaf gestorben.«
    Tim war neben Fredrik in die Knie gegangen. Mit den Zähnen riss er die Hülle einer Rettungsdecke auf, die gold-silberne Folie knisterte, als er sie entfaltete. An seinen Knien lehnte ein kleines eckiges Gerät mit einer Antenne: einer der Notpeilsender, endlich aktiviert. Einen Moment lang war Jonas noch still. Dann hörte Kirsten ihn einatmen, und mit dem Schluchzer löste sich auch die Starre seines kleinen Körpers.
    »Stirbt Opa jetzt auch?«
    Kirsten brach in einer Schneemulde ein und kippte nach vorne. Mit einer Hand hielt sie Jonas fest, die andere fing ihren Sturz auf. Ein stechender Schmerz zuckte erst durch ihr Handgelenk, dann durch ihre Brust. In ihre Lungen hatte sich der Frost gefressen, verzerrte ihre Stimme. »Ich weiß nicht, ob Opa wieder aufwachen wird. Ich weiß es nicht.«
    Jonas flüsterte: »Schlafen tut nicht weh.«
    »Nein«, weinte sie. »Schlafen ist schön.«
    Das letzte Bild, welches Kirsten von dem Ort mitnahm, wo der Tod und Fredrik Stolt zum zweiten Mal zusammengekommen waren, waren die von Scheinwerfern beleuchteten und im Wind der Rotorenblätter aufsteigenden Wirbel aus pulvrigem Schnee. Dann verhüllte Nacht die Fenster und Konturen des schlafenden Landes, während der Rettungshelikopter nach Longyearbyen drehte und beschleunigte.
    Kirsten hielt Jonas noch immer auf ihrem Schoß. Der Pilot hatte ihr einen eigenen Gurt für ihn angelegt, damit sie ihn nicht loslassen musste. Ein Polizist hatte ihr Handgelenk bandagiert, während sich der Notarzt um Fredrik gekümmert hatte. Jetzt lag Fredrik eingewickelt auf einer Trage; bloß sein Gesicht war frei, der Mund seltsam verkrampft. Er rührte sich nicht. Der Arzt beugte sich im Sitzen und mit versteinertem Gesicht über ihn, hielt die Oberseite seiner Finger dicht unter Fredriks Nase. Es erschien Kirsten unmöglich, wie er durch das Vibrieren und Dröhnen des Helikopters hindurch überhaupt einen leisen Atemhauch fühlen wollte.
    »Wird er leben?«, hatte Kirsten den Arzt gefragt, kurz bevor der Lärm der Rotoren ihre Stimmen übertönte.
    »Das weiß man bei einem stark Unterkühlten erst, wenn man ihn aufwärmt.«
    »Er hat ein starkes Herz«, hatte Kirsten sagen wollen, aber die Worte erreichten niemals ihre Stimmbänder. Sie war nicht mehr sicher, ob es noch zutraf, nicht nach zwei toten Söhnen.
    Jonas bewegte sich in Kirstens Armen, seine rechte Faust öffnete und schloss sich um das Ende ihres Schals. Er zog daran, bis er den Stoff gegen sein Gesicht pressen konnte. Mit einem Handzeichen bat Kirsten Tim, ihr ihre Tasche zu reichen, damit sie nach Jonas’ Seehund kramen konnte. Das Stofftier war nach ganz unten geschlüpft. Als sie danach griff, knisterte Papier unter ihren Fingerspitzen. Vergessen und versunken unter Bonbons, Taschentüchern,
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