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Innerste Sphaere

Innerste Sphaere

Titel: Innerste Sphaere
Autoren: Sarah Fine
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samtweichen Rasen davon und wünschte, ich hätte etwas, das ich auf die großen, kristallklaren Panoramafenster hätte schleudern können. Bei mir war eine Sicherung durchgebrannt – die eine Sache, an die ich mich geklammert hatte, zerbrach. Als ich beim Auto war, atmete ich tief durch und versuchte, mich so weit zu beruhigen, dass ich fahren konnte. Morgen würde es ihr besser gehen. Dann würde ich ihr den Brief zeigen.
    Aber dazu kam es nicht. Am nächsten Morgen rief Tegan an. Ich verstand kaum, was sie sagte, so hysterisch schluchzte sie, aber nachdem sie es ein paar Mal wiederholt hatte, kapierte ich endlich.
    Mrs. Vetter hatte ihre Tochter auf dem Fußboden des Badezimmers gefunden. Neben ihr lag ein leeres Pillenfläschchen.
    Nadia war tot.

3
    Mein Blick glitt über die verquollenen Züge des Zombies, während das Heulen der Tätowiermaschine meine Ohren malträtierte. Die untote Kreatur wirkte ziemlich einschüchternd, farbintensiv und bedrohlich. Während ich Dunn, den Besitzer des Zombies, beobachtete, überlegte ich, was es über ihn aussagte, dass er beschlossen hatte, das Monster auf seiner Haut zu tragen. Er war drahtig und klein, und ich kam zu dem Schluss, dass er als Kind wahrscheinlich gemobbt worden war. Jedenfalls musste er irgendetwas kompensieren. Ich suchte nach weiteren Indizien, dankbar für die Ablenkung von dem pochenden, stechenden Schmerz auf meiner Haut. Und von dem Schuldgefühl, das mich quälte.
    Stirnrunzelnd konzentrierte sich Dunn auf die Manöver mit seinen Nadeln. Ich unterdrückte ein Schaudern, zwang mich, den Schmerz zu ertragen und stillzuhalten, denn ich fürchtete, dass die kleinste Bewegung das Porträt ruinieren würde, das auf meinem Arm Gestalt annahm.
    »Schon halb geschafft«, bemerkte Dunn. »Brauchst du eine Pause?«
    Ich schüttelte den Kopf. »Mach weiter.«
    »Du bist blass um die Nase.«
    »Mir geht’s gut«, erwiderte ich mit zusammengebissenen Zähnen.
    Dunn grummelte etwas und beugte sich wieder über seine Arbeit. Er verstand sein Handwerk. Trotz Blut und Schwellung waren Nadias feine Züge schon zu erkennen. Seit er ihr Foto zum ersten Mal gesehen hatte, waren erst ein paar Tage vergangen, er hatte eine Zeichnung von ihrem Gesicht gemacht und sie auf meinen Unterarm übertragen. Schon komisch, dass ich, trotz meines Rufs als schlimmes Mädchen, meinen gefälschten Personalausweis zum ersten Mal benutzt hatte, um mir dieses Tattoo machen zu lassen. Dunn hatte mir sogar Rabatt gegeben. Trotzdem riss es ein Loch inmeine mickrigen Ersparnisse, aber das war ja kein Problem mehr. Schließlich hatte ich ein Stipendium.
    Ich sah aus dem Schaufenster des Ladens hinaus auf die Autos, die auf der schmalen Fahrspur der Wickenden Street unterwegs waren. Vielleicht würde dieses Tattoo etwas ausrichten. Die Gedenkandacht in der Schule hatte nichts gebracht – ich hatte aus der hintersten Reihe Nadias plakatgroßes Hochglanzfoto angestarrt, aber damit war sie nicht aus meinem Kopf verschwunden. Die Totenwache bewirkte ebenfalls nichts – auch nachdem ich sie da hatte liegen sehen, blass und vollkommen, verfolgten mich die Träume noch. Das Begräbnis hatte nichts geholfen – obwohl ich mir die Versprechungen des Priesters zu Gemüte führte, sie lebe jetzt in einer besseren Welt, blieb es bei den nächtlichen Visionen von ihr, gefangen in dieser finsteren Stadt, der Stadt meiner Albträume, die mich seit zwei Jahren peinigten. Jetzt war sie dort. Und es war meine Schuld.
    Diane meinte, ich müsse auf meine Weise Abschied nehmen. Dann würde es mir besser gehen, versprach sie. Und das war jetzt mein persönliches Mahnmal für Nadia. Ich würde ihre ernste, gequälte Miene für immer auf meiner Haut tragen: als Erinnerung daran, was ich gehabt, was ich versäumt, was ich verloren hatte.
    Jemand kam aus dem Hinterzimmer des Ladens und die Türangeln quietschten jämmerlich. Ich schnappte nach Luft, als das Selbstmordtor vor mir auftauchte, nach mir griff, versuchte, mich zu schlucken. In jener Nacht vor einer Woche war ich mit Nadia hindurch gegangen, über einen Boden, den ich nur allzu gut kannte, hatte sie angeschrien zurückzukommen, umzukehren. Ich flehte sie an, nicht hineinzugehen. Aber sie hatte nur zu der Stadt jenseits des Tores aufgeblickt, tränenüberströmt und voller Entsetzen. Sie war ganz allein, obwohl sie von Hunderten Menschen umringt war, die in allen möglichen Sprachen vor sich hin murmelten. Diese ungeheuren, bewaffneten Wächter
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