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Infernal: Thriller (German Edition)

Infernal: Thriller (German Edition)

Titel: Infernal: Thriller (German Edition)
Autoren: Greg Iles
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Hongkong und das einundzwanzigste Jahrhundert.
    Einigermaßen aufgewühlt eilte ich durch die angrenzenden Ausstellungsräume, ohne den Gemälden mehr als flüchtige Blicke zu widmen. Falls ich Glück hatte und gleich ein Taxi fand, konnte ich noch rechtzeitig bei der Fähre und wieder in Happy Valley sein, um ein paar Sonnenuntergänge zu schießen, bevor mein Flieger nach Beijing ging. Ich bog in einen kurzen, mit Statuen gesäumten Korridor ein in der Hoffnung, eine Abkürzung zum Ausgang zu finden. Was ich stattdessen fand, war ein weiterer Ausstellungsraum, und dieser war voll mit Menschen.
    Vor dem gewölbten Eingang zögerte ich und überlegte, was sie wohl alle hergeführt hatte. Die übrigen Räume des Museums waren praktisch verlassen. Waren die Bilder in diesem Raum so viel bedeutender als der Rest? Oder lief gerade irgendeine gesellschaftliche Veranstaltung? Es sah nicht danach aus. Die Besucher standen schweigend und für sich allein, während sie mit geradezu unheimlicher Konzentration die Bilder studierten. Über dem Bogen des Eingangs hing ein transparentes Schild mit chinesischen Piktogrammen und lateinischen Buchstaben. Es verkündete:
    NACKTE FRAUEN IN RUHE
    Unbekannter Künstler
    Als ich wieder in den Raum sah, stellte ich fest, dass er nicht voller Menschen war – er war voller Männer. Warum ausschließlich Männer? Bei meinem letzten Besuch war ich eine ganze Woche in Hongkong gewesen, und mir war kein Mangel an Nacktheit aufgefallen – falls es das war, wonach sie gierten. Alle Männer im Raum waren Chinesen, und alle steckten in Geschäftsanzügen. Ich hatte den Eindruck, als wäre jeder Einzelne von ihnen einem unwiderstehlichen Zwang erlegen, von seinem Schreibtisch bei der Arbeit aufzuspringen, zu seinem Wagen zu rennen und zum Museum zu rasen, um einen Blick auf diese Gemälde zu werfen. Ich griff nach unten zu dem Walkman am Gürtel meiner Jeans und spulte die Kassette vor, bis der Sprecher bei der Beschreibung des Raums angekommen war.
    »Nackte Frauen in Ruhe« , verkündete die Stimme in meinem Kopfhörer. »Diese provokative Ausstellung zeigt sieben Leinwände des unbekannten Künstlers, der die gemeinhin als ›Schlafende Frauen‹ bezeichnete Serie geschaffen hat. Die ›Schlafenden Frauen‹ sind ein Rätsel in der modernen Kunstwelt. Man weiß von neunzehn existierenden Gemälden, alle Öl auf Leinwand, und das erste erschien 1999 auf dem Markt. Über die neunzehn Gemälde hinweg ist ein Fortschritt von vagem Impressionismus hin zu einem verblüffenden Realismus zu erkennen; die jüngsten Werke sind in ihrer Akkuratesse beinahe fotografisch. Obwohl man anfänglich glaubte, dass sämtliche Bilder schlafende, nackte Frauen darstellen, ist diese Theorie inzwischen zumindest fragwürdig. Die frühen Gemälde sind so abstrakt, dass die Frage nicht mit Sicherheit beantwortet werden kann, doch die späteren Leinwände haben einen unbestimmten Verdacht unter asiatischen Sammlern erweckt. Sie glauben, dass die Frauen auf den Gemälden nicht schlafen, sondern tot sind. Aus diesem Grund hat der Kurator die Ausstellung ›Nackte Frauen in Ruhe‹ genannt und nicht ›Schlafende Frauen‹. Die vier Gemälde, die in den letzten sechs Monaten auf den Markt gekommen sind, haben Rekordpreise erzielt. Das letzte Werk mit dem einfachen Namen ›Nummer Neunzehn‹ wurde für die Summe von eins Komma zwei Millionen Pfund Sterling an den japanischen Geschäftsmann Hodai Takagi verkauft. Das Museum ist Mr Takagi zu tiefstem Dank verpflichtet, dass er drei seiner Leinwände für die gegenwärtige Ausstellung geliehen hat. Was den Künstler betrifft, so ist seine Identität weiterhin unbekannt. Seine Arbeiten sind exklusiv über Christopher Wingate, LLC, New York City, USA erhältlich.«
    Ich spürte überraschende Beklemmungen, als ich auf der Schwelle zu diesem Raum voller Männer verharrte, schweigender Asiaten, die wie Statuen vor Bildern posierten, die ich von der Stelle, wo ich stand, noch nicht sehen konnte. Nackte Frauen, die möglicherweise nicht schliefen, sondern tot waren. Ich habe mehr tote Frauen gesehen als die meisten Morddezernate, viele davon nackt, die Kleidung von Artilleriegranaten weggefetzt, von Feuer verbrannt, von Soldaten heruntergerissen. Ich habe Hunderte von Fotos von ihren Leichen geschossen und methodisch meine eigenen Bilder vom Tod erschaffen. Und doch beunruhigte mich die Vorstellung von diesen Gemälden im nächsten Ausstellungsraum. Ich hatte meine Bilder erschaffen,
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