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Infernal: Thriller (German Edition)

Infernal: Thriller (German Edition)

Titel: Infernal: Thriller (German Edition)
Autoren: Greg Iles
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Reuters hatte mir den Tipp gegeben, unbedingt das Hongkong Museum of Art zu besuchen, um ein paar chinesische Aquarelle anzusehen. Er sagte, die alten chinesischen Maler hätten in ihren Bildern von der Natur eine nahezu perfekte Reinheit erreicht. Ich weiß überhaupt nichts über Kunst, doch ich dachte mir, dass die Aquarelle vielleicht einen Blick wert wären, und sei es nur wegen der Perspektive. Also bestieg ich am späten Nachmittag die altehrwürdige Star Ferry und setzte zur anderen Seite des Hafens über, nach Kowloon, um von dort aus zu Fuß zu gehen. Nach zwanzig Minuten im Museum war Perspektive das Letzte, was ich noch im Sinn gehabt hätte.
    Der Wächter am Eingang war das erste Zeichen, doch ich interpretierte es völlig falsch. Als ich durch die Tür ging, öffneten sich seine Lippen ein wenig, und seine Augen wurden größer, dem Ausdruck von Begierde nicht unähnlich. Auch heute noch erwecke ich hin und wieder diese Reaktion bei Männern, doch ich hätte aufmerksamer sein müssen. In Hongkong bin ich ein kwailo , ein fremder Teufel, und meine Haare sind nicht blond, die Farbe, die chinesische Männer so sehr schätzen.
    Das Nächste war die chinesische Matrone, bei der ich einen Walkman mitsamt Kopfhörer und der englischsprachigen Version der Audio-Museumsführung auslieh. Sie blickte lächelnd auf, um mir das Gewünschte zu überreichen – dann verschwanden ihre Zähne, und ihr Gesicht verlor merklich an Farbe. Ich wandte mich instinktiv um in der Erwartung, hinter mir einen finsteren Schläger zu sehen, doch ich war allein, nur meine hundertsechsundsiebzig Zentimeter, schlank, einigermaßen muskulös und alles andere als eine Bedrohung. Als ich sie fragte, was denn los wäre, schüttelte sie schweigend den Kopf und beschäftigte sich eifrig hinter ihrem Schalter. Mir liefen eiskalte Schauer über den Rücken. Ich schüttelte sie ab, setzte den ausgeliehenen Walkman auf und marschierte brüsk in Richtung Ausstellung davon, während eine Stimme, die klang wie die von Jeremy Irons, in sonorem, doch präzisem Englisch auf mich einredete.
    Mein Freund bei Reuters hatte Recht. Die Aquarelle waren umwerfend. Einige waren beinahe tausend Jahre alt und trotzdem kaum verblasst. Die zart gepinselten Bilder vermittelten auf beeindruckende Weise die Bedeutungslosigkeit menschlicher Wesen, ohne sie in ihrer Umgebung zu entfremden. Der Hintergrund war nicht vom Thema des Bildes getrennt – oder vielleicht war die Lektion auch, dass es überhaupt keinen Hintergrund gibt. Während ich von Bild zu Bild wanderte, wich allmählich die innere Dunkelheit von mir, die mein ständiger Begleiter ist – genau so, wie es beim Hören bestimmter Musik geschieht. Doch die Erleichterung währte nur kurz. Als ich ein Gemälde betrachtete – einen Mann, der in einem Boot nicht unähnlich einer Cajun-Piroge über einen Fluss stakte –, bemerkte ich eine Chinesin zu meiner Linken. Ich nahm an, dass sie das gleiche Bild betrachten wollte wie ich, und trat einen Schritt nach rechts.
    Sie bewegte sich nicht. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass sie keine Besucherin war, sondern eine uniformierte Reinigungsfrau mit einem Staubwedel. Und sie stierte nicht das Gemälde an, als wäre sie zur Salzsäule erstarrt, sondern mich . Als ich mich ihr zuwandte, blinzelte sie zweimal und huschte hastig in die dunklen Nischen des angrenzenden Raums davon.
    Ich ging zum nächsten Bild und fragte mich, was sie so an mir fasziniert haben mochte. Ich hatte nicht viel Zeit auf meine Haare oder das Make-up verschwendet, doch nachdem ich mein Spiegelbild in einer Vitrine überprüft hatte, kam ich zu dem Schluss, dass nichts an meinem Äußeren diesen Blick rechtfertigte.
    Ich ging weiter in den nächsten Raum, in dem Arbeiten aus dem neunzehnten Jahrhundert ausgestellt waren – doch bevor ich auch nur ein Bild betrachten konnte, bemerkte ich, dass ich von einem weiteren uniformierten Museumsangestellten angestarrt wurde. Ich war ziemlich sicher, dass der Wächter am Eingang des Museums ihn über mich informiert hatte. Seine Augen verrieten eine Mischung aus Faszination und Furcht, und als ihm bewusst wurde, dass ich sein Starren erwiderte, zog er sich eilig hinter eine Säule zurück.
    Fünfzehn Jahre früher hätte ich diese Art von Aufmerksamkeit als völlig normal empfunden. Verstohlene Blicke und merkwürdige Annäherungsversuche waren in Osteuropa und der alten Sowjetunion an der Tagesordnung gewesen. Doch das hier war das post-koloniale
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