Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Infam

Infam

Titel: Infam
Autoren: K Ablow
Vom Netzwerk:
blickte hinaus aufs Wasser, auf dessen Oberfläche weiße, elektrische Edelsteine aus Licht funkelten. »Warum hat dir Mr. Bishop deiner Meinung nach Tür und Tor geöffnet?«
    »Keine Ahnung. Wie gesagt, das ist es, was mir Sorgen bereitet.«
    »Das war, bevor das Ergebnis der Obduktion bekannt war«, gab ich zu bedenken.
    »Trotzdem …«
    »Vielleicht hat er es satt«, sagte ich. »Er hat sich für Billy eingesetzt, als er Feuer gelegt und Tiere gequält hat – und jetzt das. Vielleicht begreift er langsam, dass Billy gefährlich ist.«
    »Kann sein.«
    »Oder es könnte etwas anderes sein«, meinte ich.
    »Zum Beispiel …«
    »Zum Beispiel könnte er wollen, dass Billy für jemand anderen den Sündenbock spielt«, sagte ich. »Für seinen Musterknaben zum Beispiel. Oder seine Frau. Oder ihn selbst.«
    »Auch möglich«, pflichtete Anderson bei. »Wenn ich einen Psychiater hätte, der mit mir zusammenarbeitet, dann könnte ich möglicherweise herausfinden, welche Antwort die richtige ist.«
    Ich atmete tief durch.
    »Ich brauche dich bei diesem Fall«, beschwor mich Anderson. »Mein Instinkt sagt mir, dass Billy Bishop unschuldig ist. Und wenn ich Recht habe, ist nur das halbe Problem gelöst, weil ich dann herausfinden muss, wer der wirkliche Täter ist. Die Bishops haben nämlich noch ein zweites kleines Mädchen.«
    Andersons Sorge um Tess war durchaus berechtigt. Es gab rund ein Dutzend dokumentierte Fälle von Kindsmord in Familien mit Zwillingen, und in siebzig Prozent dieser Fälle starb das überlebende Baby am Ende unter mysteriösen Umständen, normalerweise durch plötzlichen Herz- oder Atemstillstand. Einige Studien haben die Theorie aufgestellt, dass der erschütternde Verlust des einen Zwillings beim anderen eine physische Trauerreaktion auslöst, die auf unerklärliche Weise die Reizleitung im Herzen unterbricht oder eine Art Kurzschluss des Atemreflexes hervorruft. Eine unermessliche Seelenverbindung wurde abrupt unterbrochen, wodurch der Überlebenswille erlischt. Doch die überzeugendste Erklärung ist, dass der Mörder schlichtweg ausreichend Zeit und Gelegenheit hatte, ein weiteres Opfer zu fordern – höchstwahrscheinlich durch Ersticken –, entweder weil die falsche Person festgenommen worden war oder weil ein Mangel an Beweisen eine Verhaftung unmöglich gemacht hatte.
    Ich blickte zum Himmel hinauf. Aus unerklärlichem Grund tauchte vor meinem geistigen Auge mein Vater in einem seiner betrunkenen Wutausbrüche auf, willens und bereit, die Prügel auszuteilen, aus denen meine Kindheit bestand. Mir ging durch den Sinn, wie schön es wäre, wenn ich zur Abwechslung einmal an meine eigene Sicherheit denken würde. Und dass mir niemand übel nehmen könnte, wenn ich es täte, denn meine Psyche war bereits von Wunden übersät, sodass sie wie eine Landkarte der Hölle anmutete. Und einige davon hatten nie aufgehört zu bluten.
    »Niemand würde es dir übel nehmen«,
flüsterte die Stimme,
»nur du selbst.«
    Als ich in meine Wohnung zurückkehrte, hatte Justine das Frühstück so gut wie fertig. Auf dem Herd brutzelten Omeletts und Speck. Noch warme Bagels von Katz’s, einem fünfundsechzig Jahre alten Geschäft neben dem 7-Eleven, warteten aufgeschnitten und mit Frischkäse bestrichen. Eine dunkelrote Flüssigkeit schimmerte im Mixer.
    »Erdbeeren, Eis und Zucker«, erklärte sie ungefragt.
    »Sieht alles wirklich verlockend aus«, sagte ich.
    »Musst du sofort weg oder erst später?« Sie drehte ein Omelett um.
    Die Frage kam unerwartet, und ich beantwortete sie nicht.
    Sie sah mich an. »Ich weiß, dass du gehen musst. Ich konnte es im Gesicht deines Freundes erkennen.«
    »Ich hab ihm versprochen, dass ich mich mit ihm in vier Stunden am Flughafen treffe. Er hat einen schwierigen Fall auf Nantucket. Ein kleines Mädchen wurde ermordet.«
    »O Gott«, entfuhr es ihr. »Wie alt?«
    »Fünf Monate.«
    Sie musterte mich mit jenem forschenden Blick, den Leute manchmal bekommen, wenn sie mit der grenzenlosen Fähigkeit der Menschen zu Grausamkeit konfrontiert werden.
    »Alle gehen davon aus, dass ihr Adoptivbruder es getan hat.« Dies war das Einzige, was mir dazu einfiel. »Er ist krank.«
    Sie schüttelte den Kopf, stellte wortlos den Gasherd ab, richtete unser Essen auf Tellern an und goss die Erdbeer-Mischung in zwei Gläser. Wir setzten uns auf Hockern an die Granitarbeitsplatte in der Mitte der Küche und aßen schweigend. »Du kannst mich in Rio oder Buzios besuchen«, sagte sie
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher